Japanische Literatur:Alltägliche Unterweltfahrt

Lesezeit: 5 min

Der zweite Teil von Haruki Murakamis Trilogie "Die Ermordung des Commendatore" hat ein Problem: Den schrägen Plot, der dann auch noch zu viel verrät.

Von Burkhard Müller

Der mittlere von dreien hat es schwer. Das gilt für Familien, in denen das sogenannte Sandwich-Kind weder die Vorzüge des Erstgeborenen noch die des Nesthäkchens genießt. Das gilt auch für literarische Trilogien, deren zweiter Band ohne den Zauber des Anfangs und ohne die Rasanz und Entschiedenheit des Schlusses auskommen muss, weshalb er oft etwas langatmig durchhängt.

Haruki Murakami dürfte das Problem bekannt sein, denn es handelt sich bereits um seine zweite große Trilogie. Bei der ersten, "1Q84", war er der Schwierigkeit teilweise dadurch entgangen, dass er die Bände 2 und 3 zusammen unter einen Buchdeckel packte. Das Mittelstück von "Die Ermordung des Commendatore" aber erscheint separat und muss die undankbare Aufgaben des kompositorischen Zentrums allein erfüllen.

Wie im Horror ist die Geschichte dann am besten, wenn man noch nicht alles weiß

Der erste Band hatte, wie es sich für ein solches Projekt gehört, mit einem ziemlichen Cliffhanger geendet. Der namenlose Ich-Erzähler, ein mäßig erfolgreicher 36-Jähriger, unscheinbar, freundlich und etwas passiv, wie Murakamis Protagonisten es ja öfter sind, hatte sich nach der Trennung von seiner Frau im Landhaus seines Freundes Masahiko in den Bergen einquartiert und dort ein sehr zurückgezogenes Leben geführt. So entstand ein leerer Raum für neue, unerwartete Ereignisse. Der Erzähler machte Bekanntschaft mit dem reichen und rätselhaften Herrn Menshiki, seinem Nachbarn vom gegenüberliegenden Hang, mit schneeweißem Haar und ebensolchem Anzug. Der drängte ihn, sein Bildnis zu malen. Zugleich erhielt er den Auftrag, die 13-jährige Marie Akikawa zu porträtieren, die zu den Sitzungen schicklichkeitshalber immer von ihrer Tante Shoko begleitet wird; Marie ist vielleicht die Tochter Menshikis, vielleicht aber auch nicht, jedenfalls beobachtet Menshiki das Haus ihrer Familie ständig mit einem Teleskop.

So kommt die schon halb aufgegebene künstlerische Karriere des Erzählers wieder in Gang. Als zweiter Impuls wirkt ein Bild, das er, dick eingewickelt, auf dem Dachboden findet und das die merkwürdige, den Buchtitel liefernde Bezeichnung führt "Die Ermordung des Commendatore", ein Motiv, wie sich herausstellt, aus Mozarts Oper "Don Giovanni". Das Gemälde ist ein Meisterwerk und stammt ganz offensichtlich von Masahikos Vater, dem seinerzeit hochberühmten und inzwischen im Pflegeheim vegetierenden Maler Tomohiko Amada, der in jenem Berghaus sein Atelier hatte. Der Commendatore, der gerade einen Schwertstich ins Herz empfängt und sein Blut verströmt, ist gekleidet wie ein japanischer Adliger alter Zeit. Mit dem Erscheinen dieses Bildes beginnt sich eine andere Realität aufzutun; in der Nacht ertönt das zarte Geräusch von Glöckchen, der Erzähler geht ihm nach, findet schließlich auf seinem Grundstück einen verborgenen ausgemauerten Schacht, lässt ihn öffnen und findet auf dem Boden einen Schellenstab. Und nicht viel später erhält er Besuch von eben jenem gemalten Commendatore, der nur sechzig Zentimeter groß ist, aber sich wie ein vollkommener Aristokrat benimmt und den anderen "Ihr" nennt, wenn er selber gesiezt wird.

Diese Konstellation und dieses Personal muss der Leser präsent haben, wenn nun der zweite Teil einsetzt. Das übernatürliche, in die Tiefe der Geschichte eingesenkte Geheimnis war in der Schwebe geblieben und hatte seinen Charme bewahrt. So fangen ja auch Horrorfilme an: Das Beste an ihnen ist immer der Einstieg, wenn es sich hinter der Fassade zu rühren beginnt; da ist was, aber man weiß noch nicht, was. Wenn sich dann später die Monster oder Aliens manifestieren, wird die Wirklichkeit doch wieder ganz einschichtig, und, so grässlich bedrohlich die Lage auch sein mag, die Spannung lässt nach.

Der Erzähler wundert sich über gar nichts mehr - dem Leser geht es genauso

So ergeht es auch dem zweiten Band des "Commendatore". Zum Genre des Horrors gehört dieses Buch nun zwar nicht; es ist gewissermaßen eine Gespenstergeschichte, bei der man sich nicht gruseln muss. Das Erzähltempo sinkt, da die Eckdaten bereits feststehen, erheblich ab, was bei einem Werk von 500 Seiten Umfang nicht unproblematisch ist. Dafür tritt die Geisterwelt nun in den Bereich des Handfesten über - nicht zu ihrem literarischen Vorteil.

Plötzlich ist die 13-jährige Marie verschwunden, Verwirrung und Sorge sind groß. Der Commendatore gibt dem Erzähler den Tipp, unbedingt einer Einladung zu folgen, die er morgen erhalten wird. Sie kommt dann auch wirklich, und zwar von Masahiko, der ihn fragt, ob er ihn nicht begleiten will, wenn er seinen dementen Künstler-Vater im Pflegeheim besucht. Im Krankenzimmer sitzt wieder der puppengroße Commendatore; auch der alte Vater sieht ihn, wenngleich er nicht mehr sprechen kann. Aber er sieht ihn offenbar in anderer Gestalt als der Erzähler, nämlich möglicherweise als jenen Nazi, der 1938, als Amada sich in Wien aufhielt und in ein Komplott gegen die deutschen Besatzer verwickelt war, dessen österreichische Verlobte umgebracht hat. Das Ganze wird einerseits immer komplizierter, andererseits aber auch simpler, weil das Gemälde, das im Zentrum der Trilogie steht, sein Mysterium verliert und allegorisch vereindeutigt wird. Der Commendatore besteht darauf, dass der Erzähler ihn ersticht, ganz wie auf dem Bild, was dieser mit zitternder Hand dann auch tut (warum das erforderlich ist, erfährt der Leser nicht). Aber schließlich ist der Commendatore nur die Verkörperung einer Idee, da stirbt es sich offenbar leichter. Dagegen legt der Emissär der Unterwelt, der gleich darauf durch eine Luke im Boden des Krankenzimmers heraufsteigt, zwergenklein auch er, Wert darauf, dass er wiederum keine Idee, sondern eine Metapher sei. Der Erzähler, der unbedingt Marie retten will, folgt ihm hinab durch ein düsteres Höhlengewirr, trifft auf einen gesichtslosen Fährmann, setzt über einen reißenden Fluss und kommt schließlich in der gemauerten Grube auf dem eigenen Grundstück heraus, wo er in ziemlich ramponiertem Zustand von Herrn Menshiki gefunden wird. Es ist eine Quest ins Jenseits, deren Zweck und Folgerichtigkeit man nicht so recht begreift.

Diesen Teil des Buches, in dem die andere Welt so umstandslos an die normale des Alltags anschließt, wie ein Kanalrohr in eine Zisterne mündet, muss man leider ziemlich enttäuschend nennen. Einmal merkt der Erzähler an: "Mittlerweile war mir die Fähigkeit, mich über irgendetwas zu wundern, größtenteils abhandengekommen." Dem Leser geht es genauso. Auch Marie taucht wieder auf, es ist ihr nichts weiter passiert; ihre parallel verlaufende Geschichte teilt der Erzähler im Nachhinein mit, als sie schon gerettet ist, was die Neugier bei der Lektüre nicht gerade steigert. Zum Schluss ist zwar noch längst nicht alles, aber jedenfalls viel zu viel klar geworden. Zwischen dem Erzähler und seiner entfremdeten Ehefrau bahnt sich eine Versöhnung an, und man darf mit aller gebotenen Vorsicht ein einstweiliges Happy End verbuchen.

So stellt der Plot den Schwachpunkt dieses zweiten Bandes dar. Es wäre aber kein Buch von Murakami, wenn es daneben und darüber hinaus nicht andere Qualitäten hätte, die für diese - sagen wir es ruhig - alberne Geschichte einigermaßen entschädigen. Seine Stärke liegt in den Charakteren, in deren stiller, höflicher Manier sich starke Emotionen verbergen. Da sie die direkte Aussprache meist scheuen, wächst den Dingen, die sie tun und haben, bezeichnende Kraft zu. Auch ohne viele Worte merkt man, dass Tante Shoko und Marie entzückt sind, wie leichthändig der Erzähler bei ihrem ersten Besuch für sie ein Mittagessen zubereitet. Wenn Masahiko ausführlich begründet, warum er keine CDs leiden mag und lieber Kassetten aus den Achtzigern hört, enthüllt er, ohne es zu merken, seine Seele. Shoko und Herr Menshiki werden später eine geheime Liebesbeziehung eingehen, über die man wenig erfährt; aber ihr Toyota Prius und sein edler alter Jaguar stehen schon vorher nebeneinander auf dem Parkplatz, als wären sie verheiratet. Und es entwickelt sich unwahrscheinlicherweise zwischen dem Maler und seinem jungen Modell Marie, einem bei aller schulmädchenhaften Wohlerzogenheit bockig schweigenden Teenager, ein Verhältnis des Vertrauens und der Zuneigung, das die Geschichte noch in ihren absurdesten Wendungen trägt. Sie beide wissen, anders als ihr Autor, wie man Geheimnisse wahrt.

© SZ vom 17.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: