Süddeutsche Zeitung

Japan: Tokio in Gefahr:Gefangen in der Megafalle

Eine Stadt wie eine Gelddruckmaschine: Tokio ist eine irrwitzig schnell entstandene Megacity. Die Bewohner kennen die damit verbundenen Horrorszenarien - doch die Angst war verschwunden.

Laura Weissmüller

Die Großstadt ist das Heilsversprechen unserer Gegenwart. Die Hoffnung, dort bessere Lebensbedingungen, einen gut bezahlten Job und eine solide Ausbildung für die Kinder zu finden, hat die Metropolen in den vergangenen Jahrzehnten wachsen lassen, als wären sie eine besonders aggressive Krebsform. Lebte in den fünfziger Jahren nur knapp ein Drittel der Weltbevölkerung in Städten, war es 2007 bereits mehr als die Hälfte. Prognosen gehen davon aus, dass es 2050 sogar 70 Prozent sein werden.

Dabei handelt es sich nicht um die idyllischen Kleinstädte mit der Grenze zum ländlichen Umland in Fahrraddistanz, sondern um riesige Metropolen mit einer Ausdehnung über Hunderte Quadratkilometer. Denn mit der Landflucht gerade in den ärmsten Regionen der Welt explodiert auch die Größe der Städte: Gab es 1950 in den Entwicklungsländern 34 Millionenstädte, waren es 1995 schon 213, für das Jahr 2025 rechnet der ehemalige UN-Kommissar Klaus Töpfer mit weltweit 650. Die Metropole ist das Lebensmodell unserer Zukunft.

Nur: Was, wenn genau dieses Zukunftsmodell gleich auch größte Gefahren für die Menschen birgt? Wenn die Metropole tatsächlich "die Zeitgenossin unserer Fortschrittsdesaster" ist, so wie das der Katastrophenphilosoph Paul Virilio in seinem jüngsten Essay Panische Stadt 2004 dunkel prognostiziert, in dem er auch gleich die Stadt zur "größten Katastrophe des 20.Jahrhunderts" erklärt? Wenn also die Metropole nicht nur als Sehnsuchtsort funktioniert, sondern auch als ideale Kulisse für den Untergang? Oder genauer: Wenn die Megacity erst die Katastrophe auslöst, weil ihre Größe die Gefährdung durch Ereignisse wie Erdbeben oder Tsunamis um ein Vielfaches multipliziert, sie ins Unvorstellbare wachsen lässt so wie es die Einwohnerzahlen von Mumbai, Delhi oder São Paulo bereits sind?

Die atomare Katastrophe in Japan, die Angst vor der Notwendigkeit, eine 37-Millionen-Metropole wie Tokio evakuieren zu müssen, macht die Schizophrenie der Lebensform Großstadt sichtbar, die plötzlich janusköpfig als Hochglanzmetropole und Stadtinferno erscheint. Tokio ist mit seinem Ballungsraum nicht nur die größte Megacity der Welt - Delhi mit knapp 28,6 Millionen und Mumbai mit 25,8 Millionen Einwohner sind deutlich kleiner - 2008 war es auch diejenige mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt (BIP).

Das BIP entspricht dem von ganz Großbritannien - eine Stadt wie eine Gelddruckmaschine, mit dem glitzernden Versprechen, hier reich zu werden. Jeder Zentimeter Baugrund ist in der am dichtesten besiedelten Stadt der Welt kostbar - Fahrschüler absolvieren ihre Übungsstunden auf Hausdächern, Urnen auf dem Friedhof rotieren nach dem Prinzip von Autoparkdecks, und Menschen wohnen in Acht-Quadratmeter-Häuschen, deren Fassaden als blinkende Werbeplattform benutzt werden.

Gerade dieser Zwang zur höchsten Verdichtung hat japanische Architekten zu wahren Raumkünstlern werden lassen. Selbst winzige Wohnflächen können bei ihnen großzügig erscheinen, das Spiel, mit dem Auflösen der Grenzen zwischen innen und außen weiteren Raum zu gewinnen, beherrschen sie meisterhaft. Entwürfe von Architekturbüros wie Bow-Wow oder Sanaa sind so in den vergangen zehn Jahren zum Inbegriff des modernen Bauens geworden. Ihre Konzentration auf den Umgang mit knappem Raum ist nicht zuletzt dem Platzmangel des eigenen Landes zu verdanken.

Doch gerade diese extreme Verdichtung ist bei Katastrophen hochgefährlich. Eine geordnete Evakuierung ist allein aus Platzmangel nicht möglich. Ganz zu schweigen davon, dass keiner weiß, wie und wo in der Schnelle für Millionen Menschen Unterkünfte geschaffen werden sollen.

Als ähnlich risikobehaftet entpuppt sich Tokios hochmoderne Infrastruktur. Die japanische Hauptstadt ist auch der Hauptverkehrsknotenpunkt des Landes. Von hier führen alle Schnellstraßen strahlenförmig nach außen, Hochgeschwindigkeitszüge verbinden die Stadt mit allen japanischen Metropolen, und ein U-Bahnnetz von 290 Kilometern Streckenlänge transportiert täglich Millionen Pendler. Doch schon im Normalzustand ist dieses System überlastet.

Wie in jeder größeren Millionenmetropole sind zur Rushhour die Straßen verstopft, die Waggons der Züge und U-Bahnen voll. Eine Massenflucht würde das Verkehrssystem wohl zusammenbrechen lassen. Ein Szenario, wie es Actionfilm-Regisseure à la Emmerich und Petersen schon oft zu einprägsamen Bildern verfestigt haben. Das, was für viele Millionen Städter das tägliche Umfeld ist, wird zur Horrorkulisse; auf der Flucht vor Riesenwellen oder Killerviren mutiert die Stadt zur tödlichen Falle.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie gefährdet andere Megacitys sind.

Es ist nun nicht so, dass die Bevölkerung von Japan nicht wusste, wie gefährlich es sein kann, in einer Großstadt zu leben. Allein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Tokio zweimal nahezu komplett zerstört worden: 1923 durch ein verheerendes Erdbeben, bei dem fast alle historischen Anlagen und nahezu der komplette Bestand der Holzhäuser vernichtet wurden, und in den Nächten des Zweiten Weltkriegs, als Bomben die Stadt in Schutt und Asche legten.

Doch rasend schnell gelang der Wiederaufbau, diesmal technisch auf dem modernsten Stand: In den sechziger Jahren war Tokio bereits eine 20-Millionen-Metropole, die Autobahntrassen durch die Stadt, die man in nur vier Jahren hochgezogen hatte, waren so modern, dass Andrei Tarkowski sie als Kulisse für seinen Science-Fiction-Film Solaris verwendete. 1964 beherbergte Tokio schon wieder die Olympischen Sommerspiele.

Doch gerade diese irrwitzig schnell entstandene Megacity machte der Bevölkerung auch Angst. Man fürchtete sich in den Sechzigern vor Luftverschmutzung, Wohnungsknappheit, Verkehrschaos und dem Absinken des Bodens. Aus dieser Gefühlslage entstand damals die Gruppe der Metabolisten, jener japanischer Architekten, die durch erweiterbare Megastrukturen das Prinzip Großstadt in den Griff bekommen wollten. Arata Isozaki entwarf eine Stadt, deren Hochhäuser wie gigantische Windräder in den Himmel ragen, Kiyonori Kikutake dachte an zylinderförmige Wolkenkratzer, deren Struktur an Bienenwaben erinnert, und Kenzo Tange entwickelte in seinem "Plan für Tokio 1960" eine durchstrukturierte Stadtachse, die an das bestehende Tokio angefügt werden sollte.

Nichts davon wurde realisiert - aber die Furcht vor der Megacity verschwand trotzdem. Denn die Japaner sahen, dass Tokio funktionierte. Über Jahrzehnte wuchs die Stadt, aber die Horrorszenarien blieben aus. Die sichtbare Wirklichkeit nahm den Bewohnern ihre Angst -auch weil sie nicht die Verletzbarkeit hinter den Betonfassaden sahen, die mit jedem neuen Wolkenkratzer wuchs.

"Alle Naturrisiken werden erst durch ihr soziales Umfeld zur Katastrophe" heißt es bei Robert Geipel, emeritierter Geographieprofessor der TU München, im Band "Zukünftige Bedrohungen durch Naturkatastrophen" des Deutschen Komitees für Katastrophenvorsorge. Eine Vielzahl der Megacitys befinden sich gerade in der höchsten Gefährdungsstufe.

Wie Tokio mussten bereits Mexiko-Stadt, Los Angeles und Peking mit schlimmen Erdbeben fertig werden, auch Mumbai, Shanghai und Neu-Delhi sind bedroht, und in Istanbul wartet man seit Jahrzehnten auf den Big Bang. Viele der Megacitys sind noch dazu Küstenstädte oder liegen in Meeresnähe. Nicht nur die Versicherungsgesellschaft Münchener Rück warnt davor, dass sich dort mit dem Klimawandel auch die Gefahr von Orkanen, Hochwasser oder dem Ansteigen des Meeresspiegels erhöhe.

Ereignet sich ein Katastrophenfall in technisch hochentwickelten Metropolen von Industrieländern, sind die Sach- und Vermögensschäden - bei vergleichsweise geringen Personenschäden - gigantisch. So ist das Erdbeben in Kobe 1995 mit einem volkswirtschaftlichen Schaden von weit mehr als 100 Milliarden Dollar bis heute eines der teuersten Naturkatastrophen überhaupt. Vor dem Reaktorunfall in Japan hielten Wirtschaftsexperten ein Erdbeben in Tokio für fähig, eine weltweite Rezession auszulösen. Megacity bedeutet in diesem Fall Megakatastrophe.

Es ist nicht tröstlich, dass eine Tragödie wie in Japan seit Jahren in den Handbüchern von Risikoforschern steht. Es ist auch nicht beruhigend, dass durch die wachsende Zahl von Megacitys solche Horrorszenarien immer wahrscheinlicher werden. Aber vielleicht ist es an der Zeit, sich die Verwundbarkeit unserer Städte einzugestehen. Denn Metropolis ist und bleibt der Wohnort unserer Zukunft.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1073787
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 18.03.2011/tolu/rus
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.