Japan: Atom-Katastrophe:"Das Gefühl der Hölle war kaum auszuhalten"

"Was wird aus Japan werden?" Ein deutscher Filmemacher, der in Japan lebt, hat Opfer der Katastrophe bei sich aufgenommen. Sie schildern in der SZ das Beben und ihre Angst vor der Zukunft.

Vor zwei Jahren zogen der Filmemacher Werner Penzel und seine Frau, die Fotografin Ayako Mogi, mit ihren Töchtern von Europa nach Japan, genauer gesagt in ein ehemaliges Schulhaus auf Awajishima, einer Insel südwestlich von Osaka, und begannen dort das Lebenskunstprojekt Nomadomura. Nach der Dreifachkatastrophe vom 11. März veröffentlichten sie im Internet das Angebot, Erdbeben- und Tsunamiopfer, aber auch Menschen, die Angst vor dem kollabierten Reaktor von Fukushima haben, unentgeltlich bei sich aufzunehmen.

A man waits in line during a food distribution at an evacuation center for victims of the earthquake and tsunami in Otsuchi town, Iwate Prefecture in northern Japan

Der Japaner an sich ist immer gefasst und lebt mit der Atomkraft auf du und du - viele deutsche Medien verbreiteten in den letzten Tagen diese Ansicht.

(Foto: REUTERS)

Seither gleicht ihr Gebäude einer Art freundschaftlicher Notunterkunft. In Kooperation mit Herbert Kapfer vom Bayerischen Rundfunk haben wir die momentanen Bewohner der Schule gebeten, uns über ihre Erlebnisse während der vergangenen Tage zu berichten. Der BR wird daraus das Dokumentarhörspiel "Nomadomura, Awajishima, 800 km südlich - Aufzeichnungen nach einer Katastrophe" kompilieren, das am 1. Juli auf Bayern 2 zu hören sein wird. Die Berichte konterkarieren auf eindrucksvolle Weise all die Texte deutscher Medien, die in den vergangenen Tagen munkelten, der Japaner an sich sei ja ein so gefasstes Wesen, habe keine Angst und lebe mit der Atomkraft auf du und du.

Am 11. März 2011 bin ich nach den Vormittagsmeetings in mein Büro gekommen. Weil es ein ziemlich warmer Tag war, stand das Fenster offen. Plötzlich begann ein starker Wind zu wehen. Die Vögel draußen waren auf einmal stumm und sind dann urplötzlich alle weggeflogen. Komisch, die Frühlingsstürme sind doch schon vorbei, dachte ich. Aber ich habe das Fenster zugemacht, mir einen Tee eingegossen und angefangen, den Nachmittag vorzubereiten. Dann fing das Beben an.

Das Wochenende danach habe ich vor dem Fernseher verbracht, was ich sonst nicht tue. Da packte mich die Angst vor dem Atomkraftwerk. Das Dach ist explodiert. Und Fukushima ist ziemlich nah an Tokio. Als ich noch darüber nachdachte, wo wir eventuell hinkönnten, rief mich eine gute Freundin an, die im Nomado-Dorf mitgearbeitet hat, und fragte, ob wir nicht kommen wollten. Das Problem waren nur meine Eltern. Sie waren erst von Osaka nach Tokio gezogen, um sich um ihre Enkelin zu kümmern. Auf meinen Vorschlag, in Richtung Kansai zu flüchten, sagten sie nur: "Wir haben nicht mehr lange zu leben, wir bleiben hier. Wir wissen, wie das mit der Atombombe von Hiroshima war, es ist schon in Ordnung. Ihr seid jung, geht ihr."

Hitomi Onishi, 41, Landschaftsarchitektin

"Einfach nur entsetzt"

Ich war gerade in einer riesigen, nagelneuen Shopping-Mall in der Kleinstadt Matsuyama, als es losging. Die Bewegung, die ich unter meinen Füßen spürte, war vom ersten Moment an anders als bei allen früheren Beben. Das merkwürdige Vibrieren der Zwischendecke, das ächzende Gebäude, das Grollen der Erde - apokalyptisch. Draußen dann, auf dem Parkplatz, bewegte sich der Asphalt wie die zitternde Oberfläche eines Sees. Es fühlte sich an, als stünde ich auf einem Floß. Als ich zur Mall zurückschaute, war ich einfach nur erstaunt darüber, wie stark sie sich wellte. Die Glaspaneele krümmten sich, die ganze Struktur bog sich, als sei sie flüssig. So als würde ich das Ganze durch zitternde, heiße Luft sehen. Alle geraden Linien warfen Kurven. Die solide Welt geriet in Fluss, es fühlte sich an, als sei plötzlich alles möglich.

Als es vorbei war, lieh ich mir ein Handy, um meine Frau anzurufen, aber es gab natürlich keine Verbindung mehr. Auf dem Weg zum Bahnhof fand ich dann eine Telefonzelle. Ich erreichte meine Frau, der es gut ging, und hörte, dass unserer Tochter auch nichts passiert war. So buchstabiert man ERLEICHTERUNG. Dicke, fett leuchtende Erleichterung, eingewickelt in Geschenkpapier, das ebenfalls mit dem Wort Erleichterung bedruckt ist.

Samm Bennett, Musiker und Songwriter aus Alabama, lebt seit 16 Jahren in Japan

An den ersten beiden Tagen nach dem Beben haben wir im Fernsehen die Bilder von diesem unglaublichen Tsunami gesehen. Dazu kam die Störung in Fukushima. Wir waren einfach nur entsetzt. Aus den Nachrichten wurde nicht klar, was wirklich passiert war, und die Angst nahm zu. Aber irgendwie dachte ich im Innersten immer, dass es schon nicht zum Schlimmsten kommen werde. Ich glaube, so ähnlich haben viele Japaner gedacht. Doch auch am dritten Tag schien die Situation, statt unter Kontrolle zu kommen, eher verzweifelter zu werden. Trotzdem war bei uns alles noch immer sehr harmonisch, wir haben gut gegessen, in warmen Zimmern geschlafen, während die Evakuierten in eiskalten Schulen übernachteten. Das Gefühl, dass bei uns in Japan diese Hölle existierte, war kaum auszuhalten. Dann haben wir mit Freunden in Tokio telefoniert, vor allem um die Kinder haben wir uns Sorgen gemacht. Schließlich haben wir beschlossen, unser Nomado-Dorf für alle Flüchtlinge zu öffnen.

Ayako Mogi, 41, Fotografin

Fünf Tage lang fühlten wir uns wie eingequetscht zwischen den völlig unterschiedlichen Informationen aus Übersee und aus Japan. Die Mainstream-Medien sagten etwas anderes als die unabhängigen Sender. Was wir in der internationalen Presse lasen, widersprach dem, was in den japanischen Zeitungen stand. Also sind wir am fünften Tag aus Tokio weg. Als ich meine Tante anrief, um mich zu verabschieden, sprach sie von ihrer großen Verantwortung ihren Mietern gegenüber und sagte, dass wir in Zeiten wie diesen zusammenhalten müssten, aber dass ich, da ich mit einem Ausländer verheiratet sei, ja nun mal eine individualistischere (soll heißen: egoistischere) Einstellung hätte. "Es ist selbstverständlich deine eigene Entscheidung", sagte sie zum Schluss.

Die Zugfahrt war entspannt, unsere Tochter freute sich, endlich mal ein Abenteuer. Dann kam dieser surreale Moment: Auf dem Newsticker über der Abteiltür lief die Meldung, dass sie versuchen, einen der beschädigten Reaktoren zu kühlen. Direkt nach diesem Schnipsel an Nicht-Info kam der Werbeblock einer Firma, die Heizungen und Air-Conditions verkauft: "Genießen Sie pollenfreie, frische, saubere Luft, 24 Stunden am Tag. Eine Wohnung, in der alle Räume angenehm warm sind!" Der Moment illustrierte die auf geradezu bizarre Weise widersprüchliche Situation, in der sich Japan befindet: Riesige Areale dieser ökonomischen Supermacht sind durch die Katastrophe verwüstet, selbst die Hauptstadt wurde derart stark in Mitleidenschaft gezogen, dass wir den Strom rationieren müssen, gleichzeitig preisen sie uns weiterhin den Luxus von energieverschleudernden Air Conditions an.

Haruna Ito, 41, Homöopathin

"Ich will nicht sterben!"

Als das Erdbeben losging, war ich mit der Handwerksgruppe im Werkraum. Die Tische dort sind besonders groß und es gibt viele Sägen und Arbeitsmesser. "Wenn die jetzt runterfallen, was soll man da tun? Ich will nicht sterben!", dachte ich hektisch. Das Beben dauerte so lange, sogar die Fenster sind zersplittert. Ich hatte große Angst und habe mich am Werktisch festgeklammert.

Nach dem Beben kam die Radioaktivität, deshalb sind wir nach Awajishima gefahren, obwohl mein Vater und meine Mutter eigentlich arbeiten müssten. Weil es hier keine Radioaktivität gibt und alles heil geblieben ist, kamen noch viele andere Menschen hierher. Als wir die Nachrichten sahen, war es ein Schock, dass in Miyagi und in Fukushima so viele Menschen gestorben sind. "Ich will nicht noch mehr Tote!", habe ich gedacht. Erst kam das starke Erdbeben, dann der Tsunami, jetzt wird die Radioaktivität mit dem Wind in die verschiedenen Regionen des Landes geweht. Japan war vor den Verwüstungen wie ein ruhig dahinlebendes, gleichbleibendes Dorf. Ich denke ständig darüber nach: Was wird aus Japan werden? Wie wird die Zukunft aussehen?

Niko Matsuno, 9, dritte Klasse

Als das Erdbeben begann, war ich in Shibuya, in einem Gebäude, das ich einige Monate zuvor renoviert hatte. Es war erdbebensicher gebaut. Die nach staatlichen Vorschriften geplanten Konstruktionen sollten in Ordnung sein. Das Gebäude begann trotzdem stark zu wanken. Aufhören, habe ich geschrien, während ich verzweifelt versuchte, aufrecht zu bleiben. So ein starkes Beben hatte ich noch nie erlebt. Dass die Erdoberfläche, dass die ganze Erde so wackeln kann. Nach dem Beben tauchte von irgendwoher ein Schüler auf, der auf seinem iPhone die Nachrichten laufen hatte. Stärke 8,7?! Was soll denn das heißen!? Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich da stand.

Dann begannen die schrecklichen Bilder vom Tsunami auf uns einzuströmen. Mein Vater ist normalerweise jeden Freitag in Sendai, in den vom Tsunami betroffenen Gebieten habe ich viele gute Freunde. Das Telefon ging nicht.

17.44 Uhr: "Nein, ich habe mich nur erschreckt! Aber ich lebe, es ist alles in Ordnung, ich bin in den Park geflüchtet." Wie durch ein Wunder habe ich meinen Vater am Telefon. Selbst vor meinen Kollegen kann ich nicht aufhören zu weinen.

Am Abend sind Kollegen und Freunde, die in Shibuya gestrandet waren, mit mir nach Hause gekommen. Wir haben getrunken. Ohne Trinken wäre es nicht zu ertragen gewesen. Vor allem wollte ich das Zittern meines Körpers anhalten. Ich hatte Bauchschmerzen, und mir war schlecht. Das Schwanken meines Körpers hörte einfach nicht mehr auf. Selbst jetzt noch fühlt es sich so an, als würde alles schwanken. Ich schaue immer wieder hoch, um zu sehen, ob die Lampen an der Decke wackeln oder ob nur ich das bin.

Wenn jemand hört, dass ich aus der Region Tohoku im Norden des Landes komme, und mich nach meinen Freunden dort fragt, fange ich an zu weinen. Auch jetzt, wo ich das aufschreibe, hören die Tränen nicht auf zu fließen. Darum kann ich nur nachts schreiben, wenn es ruhig ist und die anderen schlafen. Ich kann ohnehin nicht schlafen. Ich kann nicht essen. Es fühlt sich an, als hätte meine ganze Lebenskraft stark abgenommen. Nur wenn ich arbeite, kann ich vergessen, was in Tohoku passiert ist.

Kumi Aizawa, 41, Architektin

"Sehr viel Arbeit, wenig Schlaf"

Als ich zehn war, las mein Vater auf dem Heimweg im Zug einmal ein Buch. Es war ein Buch über Atomkraft, nichts für Kinder, aber als ich fragte, hat er es mir erklärt. "Das ist ein Problem, das Leute wie du unbedingt einmal lösen müssen", hat er mir noch gesagt. Die Geschichte war beängstigend. Dass die Erwachsenen mit so etwas arbeiteten, obwohl die Gefahr bestand, dass radioaktives Material wie aus der Atombombe austreten könnte, hat mir große Sorgen gemacht. Nachts hatte ich Albträume und wachte schreiend auf. Seither sind viele Unfälle passiert, und alle haben verstanden, dass es riesige Probleme gibt, wenn die Situation außer Kontrolle gerät. Trotzdem habe ich nichts getan. Anderes im Leben war immer wichtiger: Arbeit und Ehe, Geburten und Scheidung.

Man kann spüren, wie sich die Leute in dieser Extremsituation fühlen. Sogar in Tokio, das ja nur leicht betroffen ist: Im Supermarkt gibt es keinen Reis und kein Brot mehr, keine Windeln und keine Batterien, und man bekommt kein Benzin mehr und kein Taxi.

Ich bin alleinerziehend, es ist schwer, die richtige Entscheidung allein zu treffen. Man denkt, wenn die anderen bleiben, wird es schon in Ordnung sein. Wenn ich mein Kind aus der "sicheren" Umgebung reiße, muss ich fürchten, als Rabenmutter bezeichnet zu werden (im Krieg wäre ich wohl eine "Vaterlandsverräterin"). In meinem Stadtteil leben die sauberen Bürger, es gibt keine Situation, die sie an der Regierung zweifeln ließe, alle sind sich einig. Aber ich habe mir so viele Sorgen um mein Kind gemacht, dass ich gefahren bin.

Yurie Nagashima, 36, Fotografin

Immer öfter hören wir von Bekannten, die Tokio verlassen. Im Leitungswasser wurden Stoffe gefunden, die dort sonst nicht enthalten sind. Einen Freund, der an die Ingenieure glaubt, habe ich per Mail nach seiner Meinung gefragt. Er bereite seinen Umzug vor, hat er geantwortet, aber erst mal wolle er die Situation noch weiter beobachten. Sein Kind ist noch klein. Das Erdbeben allein wäre noch zu ertragen gewesen. Der Tsunami war schlimm, aber auch das hätten wir verkraftet. Aber wir durchleben jetzt eine weitere Katastrophe. Da setzen Leute ihre letzte Kraft ein und riskieren dabei ihr Leben und ihre Gesundheit. Wir haben in Tokio noch immer unzählige Freunde und Familienmitglieder.

Ben Matsuno, 41, Architekt

Sehr viel Arbeit, sehr wenig Schlaf, dafür geht jetzt die Toilette wieder. Und wir haben uns umbenannt in Children Refugee Republic. Gerade kommt Kumi ins Büro und sagt, sie habe im japanischen Radio gehört, dass die Stahlummantelung von Reaktor drei (der mit dem Plutonium) einen Riss hat. Ich bete, dass sie sich verhört hat.

Werner Penzel, 60, Filmemacher und nomadischer Hausmeister

Aus dem Japanischen und Englischen von Marlene Weiss und Alex Rühle

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