Japan: Ethik:"Der Staat muss jedes Leben schützen"

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Darf ein Staat 50 Menschen in einem Katastrophen-AKW arbeiten lassen? Theologieprofessor Alf Christophersen über Ethik im Angesicht des Todes.

Bernd Graff

Sind 50 geopferte Menschenleben in einem brennenden Atomreaktor gerechtfertigt, wenn dadurch Zigtausende gerettet werden können? Kann man den Wert von Menschenleben verrechnen - und kann eine Regierung anordnen, dass 50 Menschen in den Unglücksreaktor geschickt werden? Und wie steht es um den gerechten Gott, der so viel Leid zulässt? Fragen an Alf Christophersen, Privatdozent für Systematische Theologie an der LMU München.

"Aus moralisch-ethischer Perspektive darf es den Befehl, ein Menschenleben wissentlich lebensgefährdender Strahlung auszusetzen, um tausend andere zu retten, nicht geben," sagt Alf Christophersen. (Foto: Bernd Graff)

sueddeutsche.de: Herr Christophersen, die Welt starrt geschockt auf die Atommeiler in Japan und möchte das Schlimmste verhindert sehen. Darf man dabei Menschen opfern? Ein erster Flug mit einem Löschhubschrauber wurde kürzlich einmal zurückbeordert, weil die Strahlung zu hoch war. Dabei hätten diese Piloten vielleicht Leben retten können, sagt der gesunde Menschenverstand.

Alf Christophersen: Ja, so etwas wird gedacht, wenn man sozusagen vom grünen Tisch aus bestimmte Entscheidungen herbeigeführt sehen will. Etwa, um das Schlimmste zu verhindern, das ja tatsächlich droht.

sueddeutsche.de: Aber es ist doch nur pragmatisch, dass man alles Erdenkliche tut, um eine große Zahl an Menschenleben zu schützen...

Christophersen: ... und dafür den Tod einzelner Menschenleben riskiert, ja, in Kauf nimmt. Das kann ein Staat, ein demokratischer zumal, aber nicht verantworten. Er hat jedem seiner Bürger gegenüber eine Fürsorgepflicht, die absolut ist. Insofern ist ein einzelnes Menschenleben genauso viel wert wie zigtausend Menschenleben. Aus moralisch-ethischer Perspektive darf es den Befehl, ein Menschenleben wissentlich lebensgefährdender Strahlung auszusetzen, um tausend andere zu retten, nicht geben.

sueddeutsche.de: Das klingt in dieser Absolutheit nach dem kategorischen Imperativ Kants.

Christophersen: Kant sah eine absolute Normsetzung, ein immer unabhängig geltendes Gesetz, in seiner Handlungsanweisung: "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Damit muss scheitern, wer sich in einer konkreten, sehr bedrohlichen Situation befindet. Kant ignoriert das besondere Individuum und dessen besondere Freiheit, sich entscheiden zu können. Es gibt also kein allgemeines ethisches Gesetz, das immer, auch jetzt in Japan, anzuwenden wäre. Auch wenn es Kant so vorschwebte. Es wäre situationsblind, so etwas annehmen und durchsetzen zu wollen.

sueddeutsche.de: Trotzdem befinden sich noch rund 50 Menschen auf dem Gelände und versuchen, eine drohende Kernschmelze zu verhindern. Die sind doch da nicht freiwillig.

Christophersen: Sie müssen dreierlei unterscheiden: Es gibt eine ethische Perspektive, eine moralische Perspektive und die besondere Perspektive vor Ort, die sich von unserer unterscheidet, die wir hier als Beobachter einnehmen, nicht als Beteiligte. Natürlich kann es aus ethischer Perspektive keinen Einsatzbefehl geben, der das Opfer ziviler Menschenleben fordert. Der Staat hat eine Fürsorgepflicht, er muss ein einzelnes Leben genauso schützen wie das von hundert oder tausend. Das ist auch die unverbrüchliche Grundlage unseres deutschen Grundgesetzes. Japans Regierung müsste eigentlich die 50 Leute notfalls mit Polizeigewalt aus der Gefahr bringen lassen. Theoretisch. Es gibt aber auch eine moralische Erwartungsperspektive. Sie ergibt sich aus dem Kontext der Katastrophe, in der so etwas wie das Selbstopfer, das manche vielleicht als "Heldentod" deuten mögen, von einigen gefordert und billigend in Kauf genommen wird, um eine nationale Katastrophe zu verhindern. Entscheidend bleibt aber der freie Wille der Individuen, die sich dann bereiterklären, in die Anlage zu gehen. Kein Entscheidungsträger kann diese Freiwilligkeit einfordern oder erwarten.

sueddeutsche.de: Das erinnert ein bisschen an die Situation, in der sich der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt 1977 während der Schleyer-Entführung befand. Zusammen mit der Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut sollten damals alle inhaftierten RAF-Gefangenen freigepresst werden. Schmidt ist hart geblieben. Hat er ein Menschenleben geopfert?

Christophersen: Schmidt hat aus übergeordneter, strikter Staatsräson gehandelt. Er wollte, dass der Staat unter keinen Umständen erpressbar wird. Seine Entscheidung war dem höheren, nationalen Wohl geschuldet. Das ist mit der jetzigen Situation in Japan nur schwer vergleichbar. Hier ist so etwas wie eine Situation entstanden, die sich niemals in Wohlgefallen auflösen wird. Es ist eine Art rechtsfreier Raum der individuellen Ausnahmezustände: Alles ist richtig wie falsch zugleich. Es ist daher angebracht, auf ethischer Ebene alle vorhandenen Möglichkeiten durchzuspielen. Während die Moral ein Selbstopfer für vertretbar und richtig halten könnte, sagt die Ethik, dass man aus dem grundsätzlichen Dilemma, in dem man jetzt gerade steckt, nicht mehr herauskommt: Es gibt kein richtig und falsch. Es gibt keine richtige Lösung. Darum kann man nur noch die Entscheidungen freier Individuen respektieren. Auch wenn anzunehmen ist, dass angesichts dieses Horrorszenarios jede Vorstellung von in Freiheit getroffener Entscheidung wohl Illusion ist. Es kann dort keine unmittelbar zwingende rationale Abwägung dieser Probleme geben, die zu einer eindeutigen Entscheidungsfindung führt.

sueddeutsche.de: Was sollen, was können wir hier tun und denken?

Christophersen: Alle Akteure in Japan sind für uns unbekannte Größen. Wir schauen von außen darauf und können nicht ermessen, wer was und warum in der dortigen Situation denkt. Darum kommen wir mit einer normativen Ethik, also mit der Suche nach absoluten Gewissheiten und Gültigkeiten, hier auch nicht weiter. Wir müssen uns an eine Kompromiss-Ethik gewöhnen, die der Situation dort geschuldet ist. Was hier unverständlich klingt, mag dort völlig gerechtfertigt sein. Unsere Beurteilungen und Ratschläge dienen daher überwiegend nur unserer eigenen psychischen Entlastung angesichts unserer faktischen Hilflosigkeit. Es besteht daher eine große Gefahr, dass wir hier mit moralischen Etiketten hantieren, die behaupten, etwas sei gut, etwas sei falsch, etwas sei richtig, die dort aber völlig unangemessen sind. Wir wissen es einfach nicht. Unser moralisches Empfinden hier wird der Situation dort niemals gerecht.

sueddeutsche.de: Sie sind evangelischer Theologe. Es ist wohl gerade keine gute Zeit für Menschen, die an einen gütigen Gott glauben?

Christophersen: Sie sprechen die Theodizee an, die Frage, wie ein gerechter Gott überhaupt so viel Elend und Leid in der Welt zulassen kann. Tatsächlich erleben wir eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes. Das Erdbeben, die Flut, das Feuer sind archaische Vernichtungskräfte, die der Mensch seit Urzeiten fürchtet. Mehr kann man nicht sagen, wenn man nicht beten will. Es mag momentan angemessener sein, sich mit Spekulationen über die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit Gottes zurückzuhalten. An mancher Stelle ist es besser, zunächst zu schweigen, statt voreilige Antworten zu präsentieren, die vor allem der eigenen Ungeduld geschuldet sind.

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