Journalismus:Reporterin der 41 Anläufe

Janet Malcolm

Die Journalistin Janet Malcolm berichtete über alles, von Mordfällen bis zu bildender Kunst.

(Foto: George Nikitin/AP)

Wie die kürzlich verstorbene Journalistin Janet Malcolm einst das eigene Scheitern zur Kunstform machte.

Von Willi Winkler

"Es war eine dunkle, stürmische Nacht", beginnt Snoopy seinen Roman, doch schon fährt ihm Lucy dazwischen, diese altkluge Kritikerin, hält ihm den Klischee-Auftakt vor und belehrt ihn, dass alle guten Geschichten mit "Es war einmal" anfangen würden. Snoopy, so gelehrig wie gehorsam, schreibt seine Geschichte noch mal neu: "Es war einmal eine dunkle, stürmische Nacht...", aber weiter kommt er nicht.

Die Forderung, dass der Anfang über die ganze folgende Geschichte entscheide, nämlich ob sich der Leser davon fesseln lässt oder nicht, besetzt einen ähnlich fetten Gemeinplatz wie Snoopys erster Satz. Dem Autor, Snoopys Stocken zeigt es, geht es nicht besser: Der erste Satz kann ihn sogleich auf die schiefe Bahn bringen, abstürzen lassen oder wenigstens in die Irre führen und den Leser mitsamt der Leserin gleich mit. Gebildete Kollegen berufen sich hier auf den Hl. Franz Kafka, der mit seinem Satz "Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt - es ist niemals gutzumachen" das Unheil bereits vor hundert Jahren beschworen hat. Kafkas Satz steht allerdings naturnotwendig erst am Ende seiner Erzählung "Der Landarzt".

Sie tut alles, was das Handbuch des Magazinjournalismus von Wolf Relotius und Claas Schneider empfiehlt

In einem der Nachrufe auf die kürzlich verstorbene US-amerikanische Reporterin Janet Malcolm wurde auch an ihre berühmte Geschichte "Forty-One False Starts" (Einundvierzig Fehlstarts) erinnert, erschienen 1994 im New Yorker, ein Portrait des Malers David Salle, das aus 41 scheinbar vergeblichen Versuchen besteht, dieses Portrait zu zeichnen. Malcolm sucht sich der zu beschreibenden Person von außen (wie auch sonst?) zu nähern, beschreibt Haare und Gesicht, schildert Wohnung, Atelier, Nachbarschaft, erwähnt eine namhafte Lebensgefährtin, zitiert Sätze, die Salle von sich gibt, tut also alles, was das Handbuch des Magazinjournalismus von Wolf Relotius und Claas Schneider empfiehlt, und bekommt die Geschichte trotzdem nicht rund.

David Salle zeigt 'Distanz von Nirgendwo'

Der US-amerikanische Künstler David Salle bei einer Pressekonferenz 2009 in Hannover anlässlich seiner Ausstellung "Distanz von Nirgendwo".

(Foto: Jochen Lübke/picture-alliance/ dpa)

Sie versucht es (1) mit dem Schauplatz, durchquert also auf dem Weg zu Salles New Yorker Atelier großtönend ein "beinah transzendentes Elend", sie versucht es (11) mit biografischen Informationen, die wenig hergeben ("Aufgewachsen in Wichita in Kansas, jüdische Familie, eher arm, hatte bereits als Kind Kunstunterricht, besuchte eine Akademie in Kalifornien, kam nach New York und wurde über Nacht reich und berühmt") und sie versucht es (8) mit kunsthistorischer und kunstmarktgerechter Einordnung, wenn sie mit lexikalischer Schlichtheit behauptet: "David Salle gilt als der führende postmoderne Maler der USA."

Das würde für einen Zwischentitel reichen, notfalls auch für eine Unterzeile, traf aber schon 1994 nicht mehr zu, denn das Thema aller 41 Fehlstarts, das den Maler ausgiebig quälende Thema, ist sein Ansehensverlust, sein fallender Marktwert und die Angst vor den Jüngeren, die bereits mehr gelten als er. Janet Malcolm, die Salle sichtlich bewundert und ihm trotzdem gerecht werden will, hat ihren eigenen Superlativ selber wenige Zeilen vorher falsifiziert, wenn sie in einem Stoßseufzer meint (7), "Salles Bilder sind wie schlechte Parodien des Freud'schen Unbewussten".

Malcolms Reportage muss wie das Dokument eines monumentalen Scheiterns vor Künstler und Werk wirken

Der Maler liegt schätzungsweise eineinhalb Preisklassen über der ihren, ist aber angewiesen darauf, dass er von solchen ärmeren Bewunderern für die reiche Kundschaft hochgeschrieben wird. Malcolms Reportage muss daher wie das Dokument eines monumentalen Scheiterns vor Künstler und Werk wirken und ist doch eine Apotheose, wie sie sich kein Künstler schöner wünschen kann. Nicht zufällig diskutiert die Journalistin mit ihrem Berichtsgegenstand über den "Untergeher" und die Frage, ob sein Autor, Thomas Bernhard, langweilig sei oder nicht. Ihre Geschichte ist es jedenfalls nicht, obwohl sie annähernd vierzig Schreibmaschinenseiten umfasst, was nur eine Zeitschrift wie der New Yorker verkraftet, der nicht nur John Updike und J. D. Salinger, sondern auch weniger eingängige Autoren wie Renata Adler und Donald Barthelme berühmt gemacht hat.

Bei Janet Malcolm muss Salle keinen frisch gebrühten Kaffee servieren, nicht an einem selbstgezimmerten Holztisch sitzen und in einem Haus voller Bücher wohnen oder mit einem ökologisch wertvollen Fahrrad zum Interview erscheinen, wie die snoopyhaften journalistischen Versatzstücke sonst lauten, sondern kann sich in ausgiebigen Deliberationen ergehen, an denen sich die Autorin lebhaft beteiligt.

Die Reportage hat nichts, womit Magazine eine teuer eingekaufte Bildstrecke betexten könnten, dafür steht die Autorin selber viel zu prominent vor den Bildern. Es gibt aber das Moment der Peinlichkeit, das große Texte auszeichnet. Janet Malcolm bringt eines Tages (30) eigene Collagen mit, angeblich, um sich von Salle daran seine Collage-Technik erläutern zu lassen, muss sich aber eingestehen, dass sie von ihm gelobt werden wollte. Beide hungern sie nach Anerkennung.

Salle muss sich gegen den Vorwurf verteidigen (17), er male zu schnell. Jeder Künstler, ganz gleich ob er schreibt oder malt, verallgemeinert Malcolm aus ihrer Erfahrung, würde etwas abwehren und sich verteidigen: "Ich verteidige mich dafür, dass ich nicht schnell genug arbeite." Tatsächlich hat sie für die "41 Fehlstarts" mehrere Jahre gebraucht, immer wieder das Atelier besucht, mit David Salle über dessen Arbeit gesprochen, sich seine Klagen über missgünstige Kritiker angehört, sich selber als "linksbewegt, puritanisch" (3) zurechtgewiesen, wenn sie die Nase über seine teuer eingekaufte Einrichtung rümpft.

Eine so lange Geschichte braucht eine Handlung (das Narrativ war 1994 noch nicht erfunden)

Einmal scheint sie sich doch der Konvention zu beugen, es ist, als würde ein Chefredakteurs-Über-Ich fordern: Eine so lange Geschichte braucht eine Handlung (das Narrativ war 1994 noch nicht erfunden)! Tapfer hat Malcolm diesen Versuch (34) damit begonnen, dass Salle feingliedrig sei, gut aussehe, die langen Haare zum Zopf zusammengebunden trage, aber jetzt verlangt sie action. Salle, nicht völlig unwillig, fragt zurück, was sie sich darunter vorstelle: "Irgendwas müsste passieren. Ein bisschen war schon - ich war in deinem Atelier, in deiner Wohnung, bei der Präsentation deiner Zeichnungen und beim Essen hinterher, aber ich will mehr."

Womöglich denkt Malcolm hier an schlimmsten VanGoghismus mit appem Ohr und allem, und wurde nicht auch das action painting in einem New Yorker Loft erfunden? Sie will ihm tatsächlich beim Malen zuschauen, was selbst mit unbewaffnetem Auge wie die größte anzunehmende Indiskretion wirkt. Salle bringt sie zum Glück von der Idee ab, stattdessen besuchen sie eine Ausstellung von Lucian Freud und diskutieren darüber, wie gut dieser Freud ist, wenn er schlecht ist.

"Wer über den Maler David Salle schreibt, sieht sich zu einer Art Parodie seiner melancholischen Kunst der Fragmente, Zitate und Auslassungen gedrängt", heißt es im 40. Versuch. Die allmähliche Verfertigung des Portraits beim Vermeiden eines Portraits ist aber keine Parodie geworden, sondern die beste denkbare Annäherung an den Maler. Wenn sie sich länger nicht gesehen haben, fürchtet Malcolm, ihn zu sehr zu mögen und wendet sich deshalb beim Schreiben von ihm ab, um ihm bei jeder Begegnung wieder zu verfallen. Ihr nachträgliches Verhärten gegen ihn vergleicht sie mit seiner Maltechnik, wenn er die weicheren Gestalten, mit denen er die Leinwand zunächst bedeckt, durch Überzeichnungen entstellt und ihnen das allzu Gefällige nimmt.

Ein erster Satz (der 30. Fehlstart) könnte auch der letzte sein: "Ich habe den Künstler David Salle regelmäßig in seinem Atelier besucht, um von ihm etwas über das Rätsel Kunst zu erfahren." Das Rätsel Kunst bleibt bedauerlicherweise auch weiterhin ungelöst, aber über der ganzen Rätselei ist eine einmalige Reportage entstanden, versehen allerdings mit einem unsichtbaren Warnhinweis: "Nicht nachmachen. Das gab's nur einmal, das geht nicht wieder."

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Janet Malcolm

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