Britische Literatur:Das hohle Land

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Jane Gardam, Jahrgang 1928, ist in England seit Jahrzehnten eine literarische Größe, für deutsche Leser aber eine ziemlich neue Entdeckung.

(Foto: Getty Images)

Landflucht, überhebliche Eliten, kolonialer Gestus: In dem Roman "Bell und Harry" umriss Jane Gardam, die später mit der "Old Filth"-Trilogie berühmt wurde, schon 1981 das ganze englische Dilemma

Von Maike Albath

Jane Gardams früher Roman "Bell und Harry" liegt auf merkwürdige Weise im Trend. Im Original schon 1981 erschienen, passt er in die neue deutsche Empfänglichkeit für das ländliche Leben jenseits der Großstädte, wie es Jan Brandt oder Lola Randl schildern. Gardam liefert eine Wald-und-Wiesen-Geschichte über verschrobene Dorfbewohner, die am Ende doch immer die klügeren sind, so sehr ihnen neunmalkluge Städter auch am Zeug flicken wollen. Da gibt es zum Beispiel die Familie Bateman, die mit mehreren Kindern plus Hund aus London anrückt, von dem Bauern Teesdale das alte Farmhaus Light Trees mietet und sich dort erholen will. Der Vater, ein überforderter Journalist, möchte den Sommer zum Schreiben nutzen und verspricht sich von der Ruhe auf dem Land Inspiration. Nur ahnten die Batemans nichts von der Geschäftigkeit ihrer Gastgeber: Die heißen Sommertage müssen zum Heumachen genutzt werden, bis tief in die Nacht sind alle Teesdales auf den Beinen, Mähdrescher und Trecker rattern über den Hof. Empört planen die Londoner ihre Abreise - was aber die beiden Haupthelden des Episoden-Romans zu verhindern wissen, nämlich Bell und Harry. Erzählt wird die erste der insgesamt neun lose miteinander verknüpften Miniaturen aus der Perspektive des achtjährigen Bell Teesdale, der mit dem Selbstbewusstsein eines Kindes, das Schafherden über die Weiden treibt und weiß, wie man die Tore zum Moor sichert, die Besucher beobachtet und vor allem für den fünfjährigen Harry große Sympathien entwickelt. Und entgegen aller Vermutungen leben sich die Batemans dann doch ein und schließen nicht nur mit den Teesdales Freundschaft, sondern auch mit dem Schornsteinfeger Kendal und der verrückten Eierhexe.

Jane Gardam, 1928 als Tochter eines Lehrers in North Yorkshire geboren, schrieb erst mit über 42 Jahren ihren ersten Roman und legte seither mehr als zwei Dutzend Bücher vor, die in England durchaus Beachtung fanden. "Bell und Harry" wurde im Jahr seines Erscheinens mit dem renommierten Whitbread Award in der Kategorie "children's book" ausgezeichnet, und tatsächlich handelt es sich um einen Roman, der für Kinder und Erwachsene geeignet ist. Zu einem internationalen Phänomen wurde Gardam nach 2004, als der erste Band ihrer Trilogie über den Kronanwalt Old Filth herauskam - der Spitzname des Helden Filth ist zugleich die Abkürzung für eine beliebte Praxis unter den Absolventen der renommierten Universitäten: "Failed in London, try Hong Kong". Die perspektivisch sehr einfallsreich gearbeitete Trilogie bot einen speziellen Blick auf das Empire und dessen Vertreter; der Dreiteiler war auch in den USA ein großer Erfolg, wo er bezeichnenderweise bei Europa Editions erschien, der amerikanischen Niederlassung des italienischen Elena-Ferrante-Verlages E/O.

Ausgerechnet in der englischen Klassengesellschaft machen die Leute vom Land den besseren Schnitt

"Bell und Harry" hat weder etwas mit der Kolonialgeschichte zu tun, noch ist es in irgendeiner Form urban; vielmehr vergewissert Gardam sich hier ihrer eigenen Ursprünge. Genau wie Harry fuhr sie nämlich während der Ferien in das "Hohle Land", wie Northern Cumbria wegen seiner vielen Bergstollen nach einem Gedicht von William Morris genannt wird. Der Vater der Schriftstellerin war der Sohn von Farmern, die weiterhin dort lebten. "Dieser Teil der Familie hatte einen enormen Einfluss auf mich", erklärte Jane Gardam 2014 in einem Interview, "weil sich alles im Handumdrehen in eine Geschichte verwandelte. Das Erzählen, das dort gepflegt wurde, besaß eine musikalische Qualität." Dies ist das Reservoir, aus dem sich "Bell und Harry" speist.

Die Handlung kreist um die Freundschaft der beiden Jungen, umfasst rund dreißig Jahre und reicht in eine vage Zukunft hinein, denn die letzte Episode trägt sich 1999 zu. Die Helden sind längst erwachsen. Wegen einer Energiekrise ist Autofahren kaum mehr möglich, und wieder sind die Farmer mit ihren Pferden, den alten Pflügen und Digbys vorne dran. "Bell und Harry" hat noch nicht die Geschliffenheit der Kurzgeschichten aus dem Band "Die Leute von Privilege Hill" (2017), formal ist es längst nicht so bemerkenswert wie die Old-Filth-Trilogie, dennoch lohnt sich die Lektüre, was vor allem an dem absichtslos wirkenden Erzählgestus liegt.

Schon hier spürt man Gardams Vermögen, Figurengruppen auszuleuchten und Konflikte anzulegen. Der Charme des frühen Romans liegt zum einen in dem einprägsamen Personal, zum anderen in dem ungekünstelten Tonfall des Kindes, das zu Beginn das Wort ergreift. Dass ausgerechnet in der englischen Klassengesellschaft die Leute vom Land den besseren Schnitt machen, ist eine besonders sympathische Pointe. Zum Beispiel reist eines Tages in den späten 1970er-Jahren eine Fernsehmoderatorin an, eine allseits als "Institution" bekannte Person, die Harrys Vater interviewen und das ländliche England mit der Kamera erkunden will, alles "himmlisch" findet und laut darüber nachdenkt, eines der alten Steinhäuser zu erwerben, um es an "Leute aus den Medien" zu vermieten.

Im richtigen Moment verschwören sich dann aber die Elemente, ein Starkregen geht nieder, der Bach überschwemmt das Haus, und "die Institution" sucht rasch das Weite. Nur die widerspenstige Tochter Poppet lässt sich nicht abschrecken und kommt von nun an, genau wie zuvor Harry, immer wieder im Sommer in das Hohle Land. Es ist Bells kleine Tochter Anne, die sich in der letzten Episode zu Wort meldet und den Schlusspunkt setzt. 1999 droht das Hohle Land Opfer von Rohstoffausbeutung zu werden - durch einen geldgierigen Verwandten der Teesdales, dessen Eltern nach Brasilien ausgewandert waren.

Aber es geht dann eben doch gut aus, weil in dem verzauberten Landstrich mit seinen Hochmooren andere Kräfte walten, denen man von Kindheit an verbunden sein muss. In den stimmungsvollen Landschaftsbildern blitzt auch ein utopisches Potenzial auf.

Jane Gardam: Bell und Harry. Roman. Aus dem Englischen von Isabel Bogdan. Hanser Berlin, Berlin 2019, 190 Seiten, 20 Euro.

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