Jan Wagners Prosaband "Der glückliche Augenblick":Am Beispiel des Fisches

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Wiederkehrendes Motiv im Werk Jan Wagners: der Fisch.

(Foto: HLPHOTO via www.imago-images.de/imago images/Shotshop)

Jedes Ding trägt eine ganze Welt in sich: Auch die Prosa von Jan Wagner beschäftigt sich mit der Wiederverwunderung der Welt.

Von Nicolas Freund

Georg Büchner verbrachte 1835 in Straßburg viel Zeit mit dem Sezieren von Fischen für seine Doktorarbeit: "Hechte, Barsche, Maifische, Lachse und Frösche, vor allem aber die Flussbarbe, jener Karpfenfisch mit den markanten Barteln" landeten unter sein Skalpell. In seiner Dankesrede für den Georg-Büchner-Preis vermutete Jan Wagner 2017 deshalb: Büchner muss wahnsinnig nach Fisch gestunken haben.

In dem Bild des sezierenden Schriftstellers geht es genauso um Jan Wagner selbst, in dessen Gedichten das Sinnliche und Organische mit dem Literarischen oft so überblendet wird, wie das Skalpell und die Feder in der Hand Büchners. Man könnte eine Poetik Jan Wagners am Beispiel des Fisches schreiben, der eines der Leitmotive in seinem Werk ist, und schon im ersten Band "Probebohrung im Himmel" von 2001 auftaucht, schlecht getarnt als "fish & chips".

Es folgten Gedichte über Karpfen, Austern und andere Meeres- und Wasserbewohner, die als Stillleben zwischen den Werken über Tomaten und Champignons zum Lesen wie zum Verzehr bereitliegen. Andere Gedichte über Tomaten und Haikus über Teebeutel haben Wagner mitunter neidischen Spott eingebracht. Der Verdacht des braven Schwiegersohns stand im Raum, gar von Langeweile sprach mancher, und dass dieser Dichter nicht politisch sei.

Natürlich ist kein Künstler zur politischen Äußerung verpflichtet. Aber manchmal versteckt sich das Politische auch gut, wie Wagner ebenfalls in seiner Rede zum Büchner-Preis andeutet, wenn es mit einem Mal nicht mehr weit ist vom Skalpell und der Schreibfeder zu den Rückenmarksnerven, die während der Französischen Revolution von der Guillotine durchtrennt wurden und nicht zuletzt zu "Dantons Tod" führten. "Die Köpfe in den Körben auf der Place de la Concorde mögen ein letztes Mal so erstaunt geguckt haben wie die Barben in den Netzen der Fischer von Straßburg und in den Sezierwannen Georg Büchners." Auch das Morbide und fast Zynische ist dem Schwiegersohn Jan Wagner, anders als man von den Gedichten ausgehend vermutet, in seinen Prosatexten nicht fremd.

Jeder banale Gegenstand trägt eine Erklärung der Welt in sich

Die Rede zum Büchner-Preis ist Teil des zweiten Essaybands von Jan Wagner mit dem Titel "Der glückliche Augenblick. Beiläufige Prosa", wobei die enthaltenen Texte alles andere als beiläufig und schon gar nicht prosaisch sind. Es geht um Poetiken und andere Dichter, um das Reisen und eine Verortung der Dichtung, die sich am besten entfaltet, wenn man nebenher auch die entsprechenden Gedichte liest.

Wenn es eine Poetik Wagners gibt, die sich offenbart zwischen Prosa und Poesie, zwischen offener und gebundener Sprache, dann ist es, neben den allgegenwärtigen Fischen, eine Poetik des heiteren Tons. Wagners Prosa zeichnet sich noch mehr als seine Gedichte durch eine ansteckende Euphorie aus, die selbst im Kleinsten ein Wunder entdecken kann. Alles kann überhöht werden, von der Tomate bis zu den Quitten in Friedrich Hölderlins Turmgarten, und natürlich trägt jeder noch so banale Gegenstand eine Teilerklärung der Welt in sich.

"Es war ein Glück, dass die Turmhüterin, die bei einem Besuch vor einigen Jahren Dienst tat, nicht nur einen Teller mit Früchten bereitgestellt hatte, die Hölderlins Zimmer im ersten Stock mit ihrem Duft erfüllten, sondern auch so freundlich war, mich eine dieser prachtvollen Tübinger Scardanelliquitten pflücken zu lassen, die mich dann auf der langen Fahrt zurück nach Berlin begleitete und berauschte." Diese duftende Quitte wurde im Anschluss natürlich nicht nur "mit einem Klacks Mascarpone verspeist", sondern führte bis dahin auch mittenhinein in das Werk Hölderlins, ins antike Griechenland und von dort wieder zurück nach Tübingen.

Wagners Text zeichnet ihre Großzügigkeit gegenüber Dingen und Autoren aus

Man versteht, dass dieser Ton, diese Verschränkung von Genuss und Geist, misstrauisch machen kann. Literatur ist bei Wagner aber vor allem dazu da zu gefallen, vielleicht sogar zu schmecken, nicht um irgendwelchen Trends nachzueifern. Selbstverständlich handeln die Bamberger Poetikvorlesungen, die einen großen Teil des Bandes einnehmen, deshalb von Dylan Thomas, Inger Christensen und Eugenio Montale, nicht etwa von Amanda Gorman oder Louise Glück. (Obwohl man auch gerne wüsste, was Wagner über diese Dichterinnen zu sagen hätte.) Im Reisebericht aus Vietnam, verfasst für das Goetheinstitut, ist auch Platz für ein Kapitel, das nur aus einer Liste mit witzigen Dingen besteht, die Vietnamesen auf ihren Motorrollern transportieren, darunter "Erdnüsse von drei Plantagen; ein Aquarium (samt Fischen); Zementsäcke".

Wagners Texte zeichnen sich durch eine menschliche und hermeneutische Großzügigkeit seinen Gegenständen und anderen Autoren gegenüber aus. Der Witz legt keine immunisierende Ironie um den Autor und sein Werk, sondern darf auch einfach nur witzig sein. Dieser unheimlich nette Ton nervt fast nie, wird selten seicht und funktioniert selbst noch in den Nachrufen auf Matthew Sweeney und John Ashbery, ohne je respektlos zu werden.

Sogar der Schauer bekommt bei Wagner, wie es ja auch im guten Horrorfilm der Fall ist, etwas Genussvolles, das nur manchmal ganz leicht, vielleicht auch kalkuliert, über sein Ziel hinausschießt. Letztlich ist es ja eine verborgene Wahrheit, die kurz aufscheint, in dem titelgebenden glücklichen Augenblick, den ein Gedicht wie eine Fotografie im besten Fall festzuhalten gelingt. Es ist laut Wagner dann zugleich Rausch und unerwartet klare Einsicht.

Jan Wagner lobt in seinen Texten die altmodischen, gebundenen Formen wie das Sonett, denn gerade diese Strenge verleihe auch eine gewisse Freiheit. Nun sind diese hier versammelten Texte aber eben nicht, wie die Zusammenstellung des Bandes suggeriert, einfach so entstanden, gänzlich frei, sondern stets zu besonderen Anlässen: Geburtstage, Reisen, Vorträge und Tode. Sucht Wagner auch in der freien Form der Prosa die Bande, den Anlass, der doch noch rechtfertigt, was da steht und wie es da steht, wenn schon keine Debatte den Rahmen liefert?

Man versteht die selbst auferlegten Einschränkungen, und doch ist es das Einzige, was man sich von Jan Wagner nach dieser so kundigen wie sympathischen Reise durch die Welt und die Lyrik wünschen möchte: Die Prosa öfter so anlasslos entstehen zu lassen wie seine Gedichte und die Poetikvorlesungen. Denn auch sie braucht keine Rechtfertigung, keinen Anlass. Sie genügt sich selbst.

Jan Wagner: Der glückliche Augenblick. Beiläufige Prosa. Hanser Berlin, 2021. 304 Seiten, 25 Euro.

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