Süddeutsche Zeitung

Holocaustforschung:Gefährliche Wissenschaft

Die Regierung in Warschau behindert massiv die Erforschung der polnischen Beteiligung am Holocaust. Wie Historiker dadurch unter Druck geraten.

Von Niklas Elsenbruch

"Deutungskämpfe" war das Motto des 53. Deutschen Historikertags, der diese Woche in München stattfand, doch die zuletzt prominenteste Fachkontroverse kam gar nicht vor: der sogenannte "Historikerstreit 2.0". Nicht eine einzige der mehr als 150 Veranstaltungen widmete sich dezidiert dem jüngsten Ringen um die Frage nach der Singularität des Holocaust und der Erinnerung an die Kolonialverbrechen.

Stattdessen tat sich ein anderer Graben bei der Holocaust-Deutung auf: Das Panel "Freiheit der Wissenschaft" diskutierte, wie Polens Regierungspartei PiS die Erforschung der polnischen Beteiligung am Holocaust behindert - und was das nicht nur für die betroffenen Forschenden bedeutet, sondern auch für die fachliche Zusammenarbeit mit historischen Instituten in Polen.

Jan Grabowski, polnischer Historiker an der Universität Ottawa, berichtete von seiner Verurteilung durch ein Warschauer Gericht für sein 2018 publiziertes Buch "Danach ist nur Nacht". Die Studie arbeitet auf 1700 Seiten heraus, wie polnische Zivilisten der deutschen Besatzung dabei halfen, aus Ghettos und KZs geflohene Juden aufzuspüren und zu ermorden. Für einen Großteil von über 200 000 Opfern wies Grabowski ihnen eine Mitschuld zu. Dies reiht sich in eine wachsende Zahl wissenschaftlicher Befunde ein, die seit den frühen Nullerjahren der polnischen Erzählung nationaler Unschuld tiefe Kratzer zugefügt haben.

Grabowski arbeitete auf 1700 Seiten heraus, wie polnische Zivilisten halfen, geflohene Juden zu ermorden

Die PiS ging dagegen 2018 mit einer Gesetzesnovelle vor: Wer die polnische Nation für nationalsozialistische Verbrechen in Mitverantwortung nahm, sah sich von bis zu dreijähriger Haft bedroht. 2008 scheiterte ein ähnliches Gesetz bereits vor dem Verfassungsgericht. Diesmal ruderte die PiS nach internationaler Kritik zurück. Grabowski sollte sich stattdessen öffentlich entschuldigen - wegen einer halben Seite, die den damaligen Bürgermeister des kleinen Ortes Malinowo in Ostpolen belastet. Geklagt hatte dessen 80-jährige Nichte mithilfe der regierungsnahen Stiftung "Festung des guten Namens" - laut Grabowski symptomatisch für das nunmehr zivil- statt strafrechtliche Vorgehen der PiS.

Zwar hob im August ein polnisches Berufungsgericht das Urteil gegen Grabowski unter Verweis auf die Wissenschaftsfreiheit auf. Der Freigesprochene betonte im Gespräch jedoch, die Lage für Holocaust-Forschende in Polen bleibe schwierig. Martin Schulze-Wessel, ehemaliger Vorsitzender des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, erkannte dabei in Polen - anders als in Belarus - weniger einen direkten Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit. Vielmehr versuche die Regierung, der akademischen Forschung Konkurrenz zu machen, indem sie "alternative Erzählungen" mittels gesellschaftlicher Institutionen popularisiere.

So rang das Panel darum, wie sich Historiker zum Pilecki-Institut verhalten sollten, das 2017 vom polnischen Parlament gegründet und ausgestattet wurde, um die Geschichte des Landes unter der nationalsozialistischen Herrschaft zu untersuchen. Stefanie Schüler-Springorum, Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, spitzte das Dilemma auf die Frage zu: "Wandel durch Annäherung oder Abgrenzung?" Grabowski, dem die Leiterin des Pilecki-Instituts in Berlin vehement gegen Darstellungen aus "Danach ist nur Nacht" widersprochen hat, warf regierungsnahen Forschungseinrichtungen in Polen Hassrede gegen seine Person auf Twitter vor und sprach sich gegen eine Zusammenarbeit aus.

Schulze-Wessel hingegen möchte offenbleiben für einen Dialog - "unter dem Vorbehalt, diesen im Dissens enden zu lassen". Zu wichtig scheint ihm die Besonderheit der polnischen Geschichte: Kein Land habe stärker unter den "Gräueln deutscher Besatzungsherrschaft" gelitten, in Deutschland aber sei etwa die Erinnerung an die Niederschlagung des Warschauer Aufstands neben dem Gedenken an den Holocaust verblasst. Zugleich zähle Polen die meisten "Gerechten unter den Völkern", obwohl dort auf Unterstützung von Juden die Todesstrafe stand. Als Entschuldigung für das Vorgehen der PiS will Schulze-Wessel dies selbstverständlich nicht verstanden wissen, mahnte jedoch: "Die starke Betonung und politische Ausnutzung dieser Aspekte in Polen sollten uns nicht daran hindern, darüber in Deutschland zu sprechen."

Wenn Deutsche die Verbrechen der Nationalsozialisten in Polen diskutieren, birgt dies allerdings Zündstoff. Im vergangenen Jahr schrieb Außenminister Heiko Maas zum 75. Jubiläum des Kriegsendes gemeinsam mit dem Historiker Andreas Wirsching im Spiegel: "Allein Deutschland trägt die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Wer daran Zweifel sät und andere Völker in eine Täterrolle drängt, der fügt den Opfern Unrecht zu." Jan Grabowski wollte die gute Absicht der Autoren nicht bezweifeln, monierte jedoch, derlei Pauschalaussagen spielten dem Narrativ der polnischen Regierung in die Karten.

Auf einem anderen Blatt als dem Manuskript der politischen Rede steht freilich die Frage, welche Gestalt die Auseinandersetzung der deutschen Geschichtswissenschaft mit dem Holocaust in Polen annehmen kann, nicht zuletzt hinsichtlich einer Zusammenarbeit mit polnischen Instituten. Auch Martin Schulze-Wessel räumte schließlich ein, hier kein Patentrezept zu haben.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5434311
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/crab
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.