James Levine:Täter im Reich des Erhabenen

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Gegen den Dirigenten James Levine sind in den USA schwere Vorwürfe wegen Kindesmissbrauch erhoben worden. Die Metropolitan Opera in New York hat ihn deshalb suspendiert. (Foto: Regina Schmeken/SZ Photo)

Die Vorwürfe gegen den Stardirigenten James Levine fordern Antworten. Auch der Klassikbetrieb muss sich mit Pädophilie und sexueller Gewalt auseinandersetzen.

Von Reinhard J. Brembeck

Nicolas Gombert war ein Starkomponist der Renaissance, angestellt bei Kaiser Karl V. persönlich. Dann aber soll er sich an einem der ihm anvertrauten Chorknaben sexuell vergriffen haben. Gombert wurde verurteilt und sollte seine Strafe auf den kaiserlichen Galeeren rudernd abbüßen, was damals so viel wie ein Todesurteil auf Raten bedeutete. Angeblich habe Gombert dann aber acht Magnificat-Stücke komponiert, Musik von betörender Süße und Schönheit, und Kaiser Karl, hingerissen, habe ihn daraufhin begnadigt.

Kindesmissbrauch ist in den rein männlich geprägten Hierarchien der Kirche und damit auch in den Kirchenchören spätestens seit dem Mittelalter immer wieder vorgekommen. Sie war eine Folge des im patriarchalischen römischen Recht wurzelnden Paulus-Dictums, dass das Weib in der Kirche zu schweigen habe. Aber auch die bürgerliche Musikkultur kennt Fälle von Kindesmissbrauch. Die Skandale bei den Regensburger Domspatzen verursachten weltweite Aufregung und befeuerten das immer latent vorhandene Misstrauen gegen solche Institutionen. Die sind deshalb zunehmend darauf aus, jeden Anfangsverdacht auf sexuelle Übergriffe auszuschließen. Und im Jahr 2007 wurde der damalige Leiter der Nürnberger Orgelwoche, Robert King, wegen Kindesmissbrauch von einem englischen Gericht zu fast vier Jahren Gefängnis verurteilt. Mittlerweile konzertiert er wieder mit seinem Ensemble.

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Aber nur selten dringen solche Fälle an die Öffentlichkeit und werden aktenkundig. Gemutmaßt wird deshalb häufig, dass Missbrauch liebend gern durch Anwälte und / oder Geld aus der Welt geschafft und vertuscht werde. Zumal, wie schon im Fall Gombert, die musikbegeisterte Welt allzu leichtfertig und unüberlegt bereit zu sein scheint, die hehre Kunst vor jedes Kindeswohl zu setzen.

Jetzt ist wieder ein Missbrauchsfall ruchbar geworden, der sich allerdings einmal in den allerhöchsten Etagen des Klassikgewerbes abgespielt haben soll. Wie die New York Times in ihrer Samstagsausgabe berichtete, läge der New Yorker Metropolitan Opera (Met) schon seit vorigem Jahr ein Polizeibericht vor, laut dem ihr früherer langjähriger Chefdirigent James Levine seit 1986 einen damals 16-Jährigen neun Jahre lang sexuell missbraucht habe.

Schon früher gab es Anschuldigungen gegen Levine wegen sexueller Übergriffe

Nun ist der 74-jährige James Levine einer der großartigsten Mainstream-Dirigenten überhaupt. Er hat die Met über Jahrzehnte in 2500 Vorstellungen in der vordersten Reihe der Opernhäuser gehalten und ist erst im vergangenen Jahr wegen seiner Parkinson-Erkrankung von seinem Chefposten zurückgetreten. Umso erschütternder sind jetzt diese Vorwürfe, die nicht nur ein Lebenswerk zu entwerten drohen, sondern, falls wahr, das bedeutendste amerikanische Klassikinstitut desavouieren würden. Wer wird schon glauben wollen, dass niemand dort mitgekriegt haben soll, was der allgegenwärtige Levine in der Met - my opera house is my home - neben seinem Musikjob alles gemacht hat? Und wenn dort irgendwer sexuelle Übergriffe mitbekommen haben sollte, aber geschwiegen hat: Der Imageschaden wäre verheerend. Levine aber habe, laut Met, diesen Vorwurf bestritten, juristisch wäre er zudem wohl verjährt.

Die New York Times legte dann gleich nach und präsentierte zwei weitere Fälle sexuellen Missbrauchs, in die Levine verwickelt sein soll. Der älteste dieser Fälle datiert von 1968, und sie alle werden bis in die kleinsten Sexualdetails beschrieben. Im Gegensatz zu dem Ankläger aus dem Polizeibericht treten die drei Männer nicht anonym auf, sondern werden mit ihrem vollen Namen genannt. Einer von ihnen fasst sein Drama so zusammen: "Ich war verwundbar. Ich stand im Bann dieses Mannes, ich sah ihn als Beschützer. Das nutzte er aus, er missbrauchte mich, er hat mich zerstört."

Laut Peter Gelb, dem Chefmanager der Met, gab es schon früher zwei Anschuldigungen gegen Levine wegen sexueller Übergriffe. Gelb dazu: "Wir glauben nicht, dass an diesen Anschuldigungen etwas Wahres dran ist." Damit folgt er dem gängigen Abwehrschema, wenn es um sexuelle Übergriffe oder Vergewaltigungen geht. Aber seitdem die Weinstein-Affäre die Filmwelt als einen Pfuhl von Belästigern und Vergewaltigern erscheinen lässt, kommt niemand mehr mit dieser billigen Standarderklärung durch. Mittlerweile hat die Met eigene Ermittlungen eingeleitet, einen externe Juristen mit der Klärung beauftragt und sämtliche Verpflichtungen Levines storniert.

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Das alles sind erst einmal Anschuldigungen, die Untersuchungen haben erst begonnen, es gibt bisher keinen Prozess und kein Urteil. Aber Gerüchte über Levine und seine angeblichen sexuellen Vorlieben gibt es schon lange. Als er 1997 als Nachfolger des gestrengen Kunsthohepriesterdirigenten Sergiu Celibidache bei den Münchner Philharmonikern geholt werden sollte, gab es große Widerstände gegen die Verpflichtung des smarten Glamour-Musikers. Schon damals kursierten Missbrauchsgerüchte, die zwar die verdruckste Diskussion befeuerten, aber nicht explizit publiziert werden konnten, weil sie eben nur Gerüchte waren. Die Grünen verlangten damals sogar, so weit können sich Linke in ihrer Staatsmannssucht verbiegen, ein Führungszeugnis von Levine - und entschuldigten sich nach seiner Wahl ganz formell bei ihm.

Dass Pädophilie und Hebephilie (die Neigung zu Pubertierenden) zu grauenvollen Verbrechen führen kann, die einen jungen Menschen psychisch und physisch für sein Leben lang zerrütten und ihn beständig am Abgrund von Selbstmord, Selbstzerstörungswahnsinn, Drogen- und Magersucht zu leben zwingen, hat der englische Klassikpianist James Rhodes in seiner Autobiografie "Der Klang der Wut" (Nagel & Kimche, 2016) beschrieben. Rhodes wurde als Kind von seinem Sportlehrer vergewaltigt, niemand, auch nicht die Eltern, glaubten ihm. Er musste die Publikation des Buches gerichtlich gegen seinen Vergewaltiger durchsetzen.

Das Thema sexuelle Gewalt bleibt meist in einer undurchdringlichen Grauzone

Für alle, die Kinder haben, ist dieses Buch Pflichtlektüre. Denn Rhodes macht klar, wie erschreckend selbstverständlich sich Missbrauch in jedem noch so behüteten Kinderalltag ereignen kann. Das gelingt, gerade weil Rhodes dem Leser kein noch so widerwärtiges Detail erspart und jeden vorher unvorstellbaren Psychoabgrund minutiös ausleuchtet. Dabei wird vor allem ein zentrales Problem deutlich: Missbrauch von Kindern und Minderjährigen wird von der Gesellschaft zwar als eine ganz besondere Niedertracht verfemt, die man aber andererseits honorigen Personen wie Lehrern, Verwandten oder Dirigenten oft nicht zutrauen will. Schon deshalb sind die Täter im Vorteil, schon deshalb werden viele Taten nie publik, schon deshalb bleibt das Thema meist in einer undurchdringlichen Grauzone.

Der Meisterdirigent Andris Nelsons, der weltweit renommierte Orchester in Boston und Leipzig leitet, hat gerade mit Hinblick auf die Weinstein-Affäre in einem Radiointerview erklärt, dass sexuelle Belästigung in der klassischen Musik keine Rolle spiele. Diese Einschätzung brachte viele Menschen gegen Nelsons auf, weil sie nicht nur dumm und naiv ist - diese Art des Beschönigens begünstigt sexuelle Belästigung geradezu. Nelsons argumentiert nach einem allzu vertrauten Schema: Die klassische Musik ist vielen ihrer Anhänger ein derart hehres, erhabenes und deshalb weltabgehobenes Gefilde der reinen Schönheit, sodass es da per se keine Nazis geben kann, keine Diktatorenfreunde, keine Vergewaltiger und Pädophilen.

Ganz egal, ob die James Levine zur Last gelegten Vorwürfe stimmen oder nicht: Der Klassikbetrieb wird nicht darum herumkommen, Missbrauch und Belästigung durch Kontrollmechanismen möglichst auszuschließen. Schönreden à la Nelsons macht alles nur schlimmer.

© SZ vom 05.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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