Süddeutsche Zeitung

Jakob Noltes Roman "Kurzes Buch über Tobias":Ewiger Frieden

Was, wenn der Messias schon unter uns ist? Und als deutscher Schriftsteller in Berlin lebt? Jakob Noltes Roman "Kurzes Buch über Tobias" zeigt: Es wäre kein schönes Schicksal.

Von Felix Stephan

In Tschechows Stück "Der Kirschgarten" kommt am Ende noch einmal der greise Diener Firs auf die Bühne. Das Stück ist vorbei, eine Epoche zu Ende, alle anderen haben das Haus der Familie verlassen, um woanders ein neues Leben zu beginnen, die Bühne ist fast dunkel, und dann kommt eben noch einmal der Diener, den eigentlich alle schon vergessen hatten. Bei der Uraufführung des Stücks, so hat es Tschechow vorgesehen, sollte Firs an dieser Stelle in lautes Lachen ausbrechen, und niemand würde wissen, worüber er lachte. Lukas Bärfuss hat dieses Lachen in einem Essay vor Kurzem so gedeutet: Wenn nur noch Firs und das Publikum anwesend seien, könne eigentlich nur das Publikum gemeint sein. "Der Dramatiker lacht über uns, die Zuschauer."

Dieses Lachen zieht sich auch durch die Stücke und Romane von Jakob Nolte, und das Publikum, das Schmeicheleien gewohnt ist, nimmt ihm das gelegentlich übel. Nolte ist gerade Anfang dreißig, aber es gibt schon heute kaum mehr ein großes deutschsprachiges Theater, das noch nie eines seiner Stücke gespielt hat, teilweise laufen sieben, acht gleichzeitig. Falls einem danach ist, könnte man eine Deutschlandreise machen von einer Nolte-Aufführung zur nächsten.

Außerdem schreibt Nolte Romane, neuerdings erscheinen sie bei Suhrkamp. In "Kurzes Buch über Tobias" geht es um einen deutschen Schriftsteller, der Tobias Becker heißt, im Literaturbetrieb der Gegenwart einen gewissen Rang einnimmt und mitten in einer Sinnkrise steckt. Die Versuchung ist groß, dahinter den Autor selbst zu vermuten, und natürlich kommt diese Selbstverdopplung im Roman auch vor: Tobias entdeckt im Laufe der Geschichte seine Homosexualität, sein neuer Freund, mit dem er auch eine Weile zusammenwohnt, heißt auch Tobias, und wenn sie sich streiten, rufen sie: "Fick dich, Tobias." "Verpiss dich, Tobias."

Tobias wird vom Heiligen Geist erfasst, vollbringt ein Wunder und ersteht wieder auf

Das ist es dann, dieses tschechowsche Lachen, das so vielen den letzten Nerv raubt, wenn sie Nolte lesen: Einerseits geht es in diesen Romanen und Stücken so gescheit und virtuos und moralisch zu, wie es in einer Generation wirklich nicht häufig vorkommt, andererseits aber reißen da alle erbarmungslos eine Zote nach der anderen, als wäre an den Themen, von denen in den Büchern die Rede ist, als wäre also an Genoziden, Vereinzelung und Depression irgendetwas lustig.

Bei einer Veranstaltung im Literaturhaus Wien soll Tobias einen zehnminütigen Vortrag über Thomas Pynchons Erzählung "Die Versteigerung von No. 49" halten. Der innere Widerstand ist groß, aber das Honorar okay, und bei Veranstaltungen wie diesen, denkt er sich, hört man meistens freundliche Bemerkungen über seine eigenen Bücher. Außerdem teilt er das Podium mit einer Büchner-Preisträgerin, einem Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, einer Autorin mit der Ernst-Jünger-Medaille und der "amtierenden Verteidigerin des Jonke-Artmann-Gürtels", also sagt er zu.

Bei der Vorbereitung stellt er dann fest, dass er die Erzählung mit jeder Faser seines Körpers hasst, und als er bei der Veranstaltung einen Text liest, in dem er diese Abscheu öffentlich macht, wendet sich der ganze Raum gegen ihn. An Thomas Pynchon sei nichts auszusetzen, heißt es, wahrscheinlich liege das Problem bei ihm, in seiner Verkrampftheit und einer verdrängten Depression. Unter Buhrufen kriecht er auf allen vieren aus dem Saal.

Diese Szene, die eigentlich den Ausgangspunkt bildet für alles Kommende, findet sich in der Mitte des Buches, denn: Die Zeit verläuft hier nicht linear. Alles ist gleichzeitig schon passiert und passiert erst noch. Die Struktur des Bildungsromans löst sich auf, als wäre eine chinesische Porzellanvase vom Sockel gefallen, der Text folgt einer scheinbar zufälligen Ordnung, der Anfang und das Ende sind dieselbe Szene.

An der Lärmverschmutzung namens Literaturbetrieb möchte er nicht weiter teilhaben

Auch deshalb merkt man erst spät, dass man hier einen zutiefst eschatologischen Roman vor sich hat, die Bildungsgeschichte des Messias, wenn er im Jahr 2021 um die dreißig und ein deutscher Schriftsteller wäre. Vom Bildungsroman unterscheidet er sich insofern, als Tobias Becker keinerlei persönliche Entwicklung durchmacht, er findet nicht zur Erkenntnis oder so etwas, wir sind hier nicht bei Siddhartha. Aber er vollbringt ein Wunder, er stirbt und ersteht wieder auf, er redet in Zungen.

An einer Stelle überlebt Tobias einen Flugzeugabsturz, aber anders als etwa bei dem Flugzeugabsturz von Max Frischs Ingenieur Walter Faber ergibt sich daraus keine Wiederverzauberung der Welt, sondern genau nichts, beziehungsweise schlimmer noch, weniger als nichts: ein Buchvertrag. Der Verlag würde ihm "einfach einen Vertrag mit einer Summe schicken", wenn er sich bereit erkläre, über den Absturz zu schreiben, "den er am eigenen Leib erlebt" habe, schreibt ihm seine Agentin, das Einstiegsangebot liege bei 60 000 Euro. Tobias jedoch "büffelte gerade für die Einführung in die wissenschaftliche Exegese biblischer Texte und antwortete seiner Agentin innerhalb einer halben Stunde, dass er an der Lärmverschmutzung, die der Literaturbetrieb war, nicht weiter teilhaben wollte".

Tobias Becker wird also Priester, scheitert aber auch dort, weil seine Blaise-Pascal'sche Wahrheitsraserei mit den Konventionen kollidiert und er dem Publikum nicht erzählt, was es hören mag. Als er in einer Predigt auf den Amoklauf von Christchurch zu sprechen kommt und auf den Hass, der ihm vorkomme "wie ein Dämon, eine gigantische Bestie im Schatten der Mittelschicht", geht er in die Knie, verliert sich in seiner Verzweiflung und spürt plötzlich "ein Geheimnis in sich, als spräche nicht er, sondern ein Engel durch ihn, ein Geheimnis, das auf einer fremden Zunge lag, aber durch ihn wirkte, und da wusste er, dass er, würde er nur weiterreden, irgendwann in der Lage wäre, es zu Wort werden zu lassen".

Seiner Gemeinde erzählt er, dass ihnen und der gesamten Christenwelt, "wenn sie ehrlich wären vor Gott", der Täter näherstehe als die Opfer, dass sie "wüssten, wie es in den Köpfen der Teufel aussah, aber noch nie eine Moschee oder eine Synagoge von innen gesehen hätten". Nach dieser Predigt betritt Tobias, der Häretiker, zwar nie wieder eine Kirche. Aber weil ein Junge die Predigt, die eigentlich eher ein Anfall war, gefilmt und hochgeladen hat, wird er zum weltweiten Viralhit, mit einer treu ergebenen, kirchenkritischen Online-Gemeinde.

Und das ist die eigentliche Tragödie des Tobias Becker: Immer wenn er tatsächlich etwas zu sagen hat, das ihm ernst ist, entsteht daraus nichts weiter als ein solides Monetarisierungsmodell. Als geschichtliches Subjekt aber existiert er nicht, die Gesellschaft möchte von seinem moralischen Empfinden nichts wissen. Die Medialisierung macht jede Radikalität unmöglich, Tobias ist gefangen in der Hölle der Selbstoptimierung: Je erfolgreicher er wird, je größer die Vorschüsse und Klickzahlen werden, desto größer ist auch seine Passivität.

Von diesem Dilemma könnte ein konventionell aufgebauter Roman nur berichten, die zirkuläre Struktur dieses Romans aber ist die formale Konsequenz: Der Text wird zum Datenträger, auf dem die spirituelle Reise bis in alle Ewigkeit abgespielt wird, zum infinite loop. Und eigentlich gibt es keinen Anlass, das ausschließlich als Gesellschaftskritik zu lesen und nicht vielmehr als technophilen Futurismus, der in diesem konsequenzlosen Affektmanagement auch milde eine Art Idealzustand sieht.

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