Jakob Heins Roman "Der Hypnotiseur":Reisen als Wille und Vorstellung

Jakob Heins Roman "Der Hypnotiseur": Wie wahrscheinlich ist es, dass man von gedanklichen Reisen nach Paris wieder in die DDR zurückkehrt? Ein Metro-Eingang in Paris.

Wie wahrscheinlich ist es, dass man von gedanklichen Reisen nach Paris wieder in die DDR zurückkehrt? Ein Metro-Eingang in Paris.

(Foto: Laurent Davoust/PantherMedia)

Darf man sich aus einem Land ohne Reisefreiheit wenigstens gedanklich entfernen? In Jakob Heins neuem Roman bietet ein Hypnotiseur in der DDR imaginäre Fernreisen an.

Von Jörg Magenau

Das Motto von Arthur Schopenhauer, das Jakob Hein seinem DDR-Dorfroman "Der Hypnotiseur" vorangestellt hat, ist vertrackter, als es scheint. "Im Reich der Wirklichkeit ist man nie so glücklich wie im Reich der Gedanken", heißt es da so schlicht wie unscharf, aber um dieses wie auch immer entstehende Glück geht es Hein.

Schopenhauer, für den die Welt aus Wille und Vorstellung hervorging, war aber nicht so naiv, Wirklichkeit und Gedanken als zwei getrennte Reiche zu betrachten, die nichts miteinander zu tun hätten. Und Jakob Hein ist es auch nicht. Er zeigt vielmehr, wie Vorstellungen die enge Welt zu öffnen vermögen und welche Kraft sie in einer geschlossenen Gesellschaft wie der DDR annehmen konnten. Gedanken sind frei, und sie sind wirklich. Was denn sonst. Die Wirklichkeit wird größer, wenn sie auch die Vorstellungen umfasst.

Hein braucht für seine Versuchsanordnung nicht viel. Handlungsort ist der fiktive Ort Soldin, das im Unteren Odertal an der polnischen Grenze liegt, also am äußersten Rand der geschlossenen DDR. Da stehen die Kraniche auf den Flussauen und erzählen von fernen Reisen. Die wenigen Menschen, die ihre Gegend nie verlassen haben, kennen und belauern sich und warten darauf, dass etwas passiert.

Jakob Heins Roman "Der Hypnotiseur": Jakob Hein: Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken. Roman. Galiani, Berlin 2022. 208 Seiten, 20 Euro.

Jakob Hein: Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken. Roman. Galiani, Berlin 2022. 208 Seiten, 20 Euro.

Und es passiert etwas: Micha, ein junger Mann, der nach drei Jahren in der NVA etwas verstört ist, zieht im Hof seiner Großmutter ein, die bald darauf stirbt. Er verkriecht sich hier, nachdem er das Psychologiestudium abbrechen musste, weil er in einer Seminararbeit über Schopenhauer dessen Theorie und die Vorstellungen der Arbeiterpartei von der Wirklichkeit in einen ungünstigen Zusammenhang brachte.

Micha ist antriebsarm und lässt den Hof verkommen. Und doch entsteht hier bald ein florierendes Unternehmen, denn es spricht sich herum, dass er sich mit Hypnose auskennt und in der Lage ist, seine Klientinnen - es sind meist Frauen aus Berlin, die zu ihm finden - in der Hypnose ihre Wünsche zu erfüllen. Die meisten wollen reisen: nach Paris oder in den Süden oder wie Peggy zu einem Konzert von The Clash nach London, an Orte jedenfalls, die ihnen in der realsozialistischen Wirklichkeit frühestens im Rentenalter erlaubt sein würden.

Heins Roman schildert nun einerseits, wie sich das Geschäft mit der Hypnose entwickelt, wie tatkräftige Frauen auf Michas Hof Einzug halten und die kleine Welt umkrempeln. Da zeigt sich die Macht einer Idee ganz konkret und unmittelbar. Vertrackter sind die Fragen, nach dem Wirklichkeitsgehalt der Hypnoseerlebnisse. Die vorgestellten Reisen, die sich aus den drängendsten Wünschen der Besucherinnen ergeben, haben den Vorzug, viel schöner zu sein, als sie es in Wirklichkeit je wären.

Die Fragen dieses Romans sind nicht politischer, sondern philosophischer Natur

Es gibt keine Missgeschicke, kein schlechtes Wetter, keine verlorenen Pässe, und wer sich wie die mit starken Wünschen ausgerüstete Anika vorstellt, schon im Flugzeug Alain Delon zu begegnen, dem widerfährt das auch. Was also spricht - von ökologischen und materiellen Vorteilen ganz abgesehen - gegen das Prinzip der Reisen im eigenen Kopf?

Das fragt sich allerdings auch die Staatsmacht, und wie sich bald herausstellt, bleibt die Stasi nicht untätig. Sind Gedankenreisen systemgefährdend, solange es keine Reisefreiheit gibt? Kehren die Reisenden wieder heim? Und in welche Wirklichkeit? Oder finden sie, wie Anika, gar nicht mehr in ihr altes Leben als Sekretärin bei VEB Lacke und Farben Berlin zurück?

Diese Fragen sind weniger politischer als lebenspraktischer und philosophischer Natur. Hein spielt mehr damit, als sie ernsthaft zu erörtern. Er lässt ein kleines Utopia entstehen, das aber nicht direkt auf die Veränderung der Verhältnisse zieht, sondern die Wirklichkeit subtil aus der eigenen Vorstellungskraft heraus aus den Angeln hebt.

Das Schopenhauer-Motto verfehlt das Geschehen in der Hypnose haarscharf

Niemand in dieser Szenerie käme auf die Idee, Schillers Ausruf aus "Don Carlos" zu zitieren: "Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire!" Es geht gerade nicht um die politische Ebene, sondern darum, dem Zugriff des Politischen zu entkommen. Wie aber dieser Wunsch dazu führt, in der tiefsten Provinz eine blühende Landkommune entstehen zu lassen, ist eine schöne, dialektische Pointe der Geschichte. Die Bewegung hinaus aus der Welt führt mitten in sie hinein.

Hein erzählt aus wechselnden Perspektiven, da spricht mal eine alte Frau aus der Nachbarschaft, dann die Sekretärin des LPG-Vorsitzenden, über deren Schreibtisch alle Maßnahmen im Dorf gehen. Nur Micha, die zentrale Figur, bekommt kein eigenes Kapitel. Er wird immer nur von anderen gesehen. Seltsamerweise ist das umfangreichste Kapitel über Anika ohne Not in auktorialer Erzählform gehalten, während alle anderen perspektivisch gebunden sind. Das macht das Buch ein wenig unrund, zumal auch die Ich-Form nicht immer ganz aufgeht, auch wenn auf dem Dorf erklärtermaßen alle alles über alle wissen.

Das Schopenhauer-Motto verfehlt das Geschehen in der Hypnose haarscharf, weil das, was dabei passiert, ja gerade nicht Gedankenarbeit ist, sondern aus der Abschaltung des Denkens resultiert. Nur wenn es gelingt, nichts zu wollen und sich ganz der unbewussten Vorstellungswelt zu überlassen, ereignet sich etwas. Dieses Wollen ist gerade kein gezieltes Wünschen, sondern ein offenes Kommenlassen des Ungeahnten.

"Der Hypnotiseur" ist ein leichter, aber sicher kein seichter Roman

Ganz so mechanisch, wie Hein das darstellt, dürften Reisen auch im Reich der Hypnose nicht gelingen. Micha spricht von "angeleiteter Entspannung". Das trifft es schon eher. Und vielleicht steckt darin ein vertracktes Widerstandspotenzial, auch wenn die Staatsmacht nicht so recht weiß, wie sie damit umgehen soll.

Heins "Hypnotiseur" ist ein leichter, aber sicher kein seichter Roman. Er erinnert an die Absurditäten der DDR-Realität, einer Gesellschaft, in der Gebrauchtwagen mehr kosteten als Neuwagen, und in der eine fiktive, bloß ausgedachte Anstellung reichte, um zu überleben.

Aber "Der Hypnotiseur" ist mehr als das: die gelungene Parodie eines utopischen Romans ebenso wie eine elegante Variante des derzeit so modischen Dorfromans, speziell im deutschen Osten. Vor allem aber ist er ein so verspielter wie humorvoller philosophischer Roman über die Dimensionen der Wirklichkeit, der, indem er das Mögliche stark macht, einen enormen Optimismus verbreitet.

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