Jahresrückblick:Ideen aus dem Jahr 2016, die bleiben

Krieg im Netz, der Literaturnobelpreis für Songtexte, das postfaktische Zeitalter: Welche Phänomene aus dem vergangenen Jahr werden uns noch 2017 beschäftigen?

Von SZ-Feuilleton-Autoren

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Identität vs. Identitäre

Ein paar Jahrtausende lang beschrieben Philosophen, Soziologen, Psychologen Identität als eine Art geschmeidiges emotionales Kostüm der Persönlichkeit, individuell, aber wandlungsfähig und gerade dadurch stabil. Diese Lesart steht inzwischen ziemlich unter Druck, denn mächtige Strömungen drehen den Zusammenhang einfach um. Grob gesprochen gelten nicht die Lebensumstände als prägend für die Identität, sondern die Identität soll, umgekehrt, zum Handeln motivieren. Das gilt für Schwarze, Frauen, Liberale, aber am schlimmsten wird es, nicht nur sprachlich, wenn die gute alte Identität zum schlampig gebildeten Substantiv wird. Die "Identitären" versprechen Stabilität durch Abgrenzung: Wir alle - "alle" ist in der Regel eine überschaubare Gruppe - gegen die da oben, die da unten, die da draußen. Und erst wenn die letzte fremdenfeindliche Aktion durchgeführt ist, werden die Biodeutschen begreifen, dass sie nichts verbindet außer einem bisschen Blut.

Sonja Zekri

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Neuentdeckung der Konzertsäle

Die Demokratie, die Gastfreundschaft, das Theater und das Odeion sind seit 2500 Jahren die erfolgreichsten Exportartikel der derzeit nicht ganz so erfolgreichen Griechen. Schließlich feiert sich in all diesen Phänomenen ein selbstbewusstes Bürgertum immer selbst, dem kann kaum ein Staat widerstehen. Vor allem das Odeion, der Konzertsaal, ist derzeit in Deutschland wieder besonders in Mode - trotz Terrorhysterie, Populismus, sozialen Missständen. Bochum hat gerade den seinen eröffnet, in den nächsten Monaten folgen die skandalumwölkte Elbphilharmonie, Daniel Barenboims Berliner Saal und zuletzt die Dresdner Philharmonie. Selbstredend plant man auch in Bayern Säle für München und Nürnberg. Aber nicht, auf dass in diesen Sälen via musikalische Weltflucht eine nie existente heile Welt beschworen werde. Sondern damit wie schon in Griechenland in diesen Foren die Bürgerschaft sich ihrer eigenen Ziele, Hoffnungen und Wertvorstellungen bewusst werde

Reinhard J. Brembeck

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Das Theater als "Eventbude"

Das Theater als "Eventbude" - nein das ist natürlich kein Konzept, wie es ein Schiller oder Brecht für eine stehende Schaubühne entwickelt haben. Sollte es sich als Erfolgsprogramm für ein Großstadttheater der Zukunft durchsetzen, dann ex negativo: als Schreckensvision jener, die in einem Theater tatsächlich Theater sehen wollen, also Stücke, Schauspieler, Darstellungskunst - all das, was das deutsche Ensemble- und Repertoiresystem ausmacht. Seit der Cheftheaterrabauke Claus Peymann den Begriff in die Runde geschmissen hat, um die Berufung des Museumsmannes Chris Dercon zum Intendanten der Berliner Volksbühne zu kritisieren, ist "Eventbude" eine Kampfvokabel. Sie steht für die Angst, ein Theater wie die legendäre Volksbühne werde zum international kuratierten Produktions-, Tanz- und Festivalhaus umfunktioniert, wo das durchgereicht wird, was global angesagt, chic und gut vermarktbar ist. In einem offenen Brief haben die Volksbühnen-Mitarbeiter 2016 ihre "Sorge" deswegen ausgedrückt. Das wenige, was Dercon bisher über seine Pläne herausgelassen hat, trägt noch nicht zur Konkretion oder gar Beruhigung bei. Wie ein Theater im Sinne des Eventbudismus als Party-Location und sozialer Klub genutzt werden kann, führt unterdessen Matthias Lilienthal an den Münchner Kammerspielen vor. Auch dort gibt es noch viele Ungläubige.

Christine Dössel

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Das Memoir als Genrebegriff

Erzählende Sachbücher, die in Ich-Form von einem schicksalhaften Erlebnis berichten, gibt es schon lange. Aber durch die Bücher von Benjamin von Stuckrad-Barre ("Panikherz"), Didier Eribon ("Rückkehr nach Reims") oder Thomas Melle ("Die Welt im Rücken") ist das Memoir 2016 auch als Genrebegriff bei uns angekommen. Anders als die fiktionale Literatur verspricht es dem Leser eine wahre Geschichte. Der Gegensatz ist jedoch trügerisch. In den drei Vorlesungen über Literatur, die er ein Jahr vor seinem Tod gehalten hat, erzählt James Salter (1925 - 2015), wie Colum McCann einmal bei einer Signierstunde in eines seiner Bücher neben die übliche Ausschlussklausel, die besagt, dass die darin vorkommenden Personen und Ereignisse frei erfunden seien, das Wort "Bullshit" schrieb. Salter selbst wiederum sollte irgendwann für Esquire über Sex und Ehe schreiben. Schließlich, so der Chefredakteur, sei er doch drei oder vier Mal verheiratet gewesen. Obwohl er nur ein einziges Mal verheiratet war und sich keineswegs als Experte für das Thema betrachtete, gab Salter einen Text ab, den man damals Essay nannte, heute Memoir nennen würde und der vor allem eins ist: große Literatur. Nachlesen lassen sich seine Erinnerungen in dem gerade erschienenen Band "Charisma" mit Salters sämtlichen Erzählungen (Berlin-Verlag, 22 Euro). Kein Memoir, aber unvergesslich.

Christopher Schmidt

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Entdeckung der Gravitationswellen

Die Tatsache, dass die vor einhundert Jahren von Albert Einstein erdachte allgemeine Relativitätstheorie ihren letzten und wichtigsten experimentellen Beweis bekommen hat, ist erstaunlich genug. Man kann kaum ermessen, welcher Aufwand betrieben werden musste, um Gravitationswellen zu messen, ein winziges Zittern der Raumzeit, welches zwei schwarze Löcher vor Milliarden Jahren bei ihrer Kollision ausgelöst haben. Die daraus abzuleitende Erkenntnis, dass Raum und Zeit keine starre Kulisse für den Kosmos bilden, sondern formbare Größen sind, ihrerseits geprägt und gestaltet von den Objekten des Universums, ist ähnlich revolutionär wie das Unschärfeprinzip der Quantenmechanik. Philosophisch betrachtet liefert die Entdeckung von Gravitationswellen aber noch weiteren Stoff: Die Menschheit hat sich in einem kollektiven Kraftakt ein neues Sinnesorgan zugelegt. Die Erkundung des Außerirdischen, des Kosmischen, in einem pathetischen Sinn Erhabenen, ist nicht mehr auf die körpereigenen (wenngleich durch Messgeräte verstärkten) Sinne beschränkt, auf Augen, Ohren et cetera. Die Menschheit ist nun für Schwankungen der Raumzeit empfänglich, ein Wahrnehmungspotenzial, das die Evolution von sich aus nicht hervorgebracht hat. Ein unmittelbarer Überlebensvorteil im Wettkampf der Arten ist zwar darin nicht zu erkennen. Und doch: Vielleicht ist das alles der Anfang einer Ära, in der nicht Mutation und Selektion das Fortkommen bestimmen, sondern Erkenntnisdrang. Wer weiß, vielleicht ist das der Weg, auf dem andere, ferne Lebensformen dereinst mit unseren Nachfahren kommunizieren wollen.

Patrick Illinger

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Thomas Mann Villa in den USA

Es war im Sommer, als ein Nachbar der Villa, in der Thomas Mann während seiner Jahre im kalifornischen Exil gelebt hatte, Alarm schlug. Die Maklerfirma Coldwell Bankers hatte das Anwesen für knapp 15 Millionen Dollar zum Verkauf angeboten. Weil die Villa aber in den Pacific Palisades steht, dem begehrten Stadtteil im Westen von Los Angeles, gab es die Option, das Haus auch abzureißen. Immerhin gehörten 4000 Quadratmeter wunderschöner Grund dazu. Damit hätte ein Käufer auch ganz andere Dinge tun können, als ein historisches Gebäude zu pflegen. Baurechtlich stand dem nichts entgegen. Den Nachbarn wäre es auch lieber gewesen, wenn aus dem Haus am San Remo Drive kein Kulturdenkmal würde. Auch die Makler versuchten, den Verkauf geheim zu halten. Als die SZ über einen öffentlichen Besichtigungstermin berichtete, wurde der eilig abgesagt. Doch dann schaltete sich das deutsche Außenministerium ein. Am 16. November kaufte der Bund den historischen Ort. Außenminister Steinmeier wusste den symbolischen Wert des Kaufs nur eine Woche nach dem Wahlsieg Donald Trumps sehr wohl zu schätzen. Der Geist jener Tage, als die Gegend als "Weimar am Pazifik" bekannt war und die Exilanten über den Kampf gegen den Faschismus nachdachten, soll nun bald wieder beschworen werden. Hier werden künftig Künstler und Intellektuelle einen neuen transatlantischen Dialog beginnen, der bitter nötig sein könnte.

Andrian Kreye

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Sanfte Disziplin

Dass Belohnung und Ermutigung effektivere Instrumente der Pädagogik sind als Strafen, weiß man seit Langem. Sie passen auch besser in die kapitalistische Ordnung. Aus den Sternchen von der Lehrerin und den zehn Mark für die eins in Mathe wurden später Boni und Dienstwagen. Doch dank digitaler Lehrer und Chefs muss dieses Prinzip nicht mehr aufs Berufliche beschränkt bleiben. Lustvoll lassen wir uns von Handy-Apps dazu bringen, Dinge zu tun, für die wir eigentlich zu faul sind: Vokabeln lernen, Liegestütze machen, meditieren. Und um Geld zu sparen, erlauben wir der Autoversicherung, unsere Fahrweise zu überwachen. "Nudging", sanfte Gängelung, nennt sich diese Externalisierung des schlechten Gewissens. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch altmodisch-repressive Regime das Potenzial erkannten. In China wird zurzeit ein Programm zur Disziplinierung von Bürgern getestet. Nicht durch Strafandrohung, sondern durch Belohnung mit Privilegien.

Jörg Häntzschel

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Das postfaktische Zeitalter

Natürlich herrschte vor dem Jahr 2016 in der Politik nicht die reine Wahrheit. Im Gegenteil, die Lüge als Mittel zum politischen Zweck gab es immer und überall, sogar unter den ehrwürdigsten Würdenträgern. Und doch hatte die haarsträubende Dreistigkeit, mit der im Vorfeld der Abstimmung über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union die EU-Gegner mit Unwahrheiten Stimmung machten oder Donald Trump und seine Unterstützer im amerikanischen Wahlkampf um Stimmen warben, ein neues Ausmaß - und dann auch noch Erfolg. Die Brexit-Befürworter etwa, darunter prominente konservative und an den besten Universitäten ausgebildete Politiker wie Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson, hatten hartnäckig und wider besseren Wissens behauptet, Großbritannien überweise jede Woche 350 Millionen Pfund nach Brüssel. Tatsächlich sind es wohl nur um die 110 Millionen. Egal. Die Mehrheit der Briten stimmte dennoch für den Austritt. Oder gerade deshalb? "Post-truth Politics" oder "postfaktische Politik", wie das Phänomen bald genannt wurde, bedeutet schließlich nicht nur, dass zwischen den politischen Lagern über die Fakten keine Einigkeit mehr besteht. Es bedeutet vor allem, dass geteilte Wahrheiten keine Rolle mehr spielen. Weil - insbesondere rechtskonservative - Wahlkämpfer offenbar lieber nur noch Ressentiments schüren und die Wähler nur noch ihre Vorurteile bestätigt sehen wollen.

Jens-Christian Rabe

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Regierungschefs als Showtalente

Zu Kaisers Zeiten sprach man vom "persönlichen Regiment". Wilhelm II. wollte sich nicht an die Tischvorlagen seiner Minister halten, frönte seiner Redelust und liebte den großen Auftritt. Leitartikler höhnten zwar, aber das Volk jubelte jahrelang seiner marschmusikumtosten Existenz zu. Der Regierungschef als Showtalent, als Jagdgenie, als Sportler oder als Sultan - das wird derzeit wieder ein weltweit erfolgreiches Verhaltensmuster. Donald Trump krönt eine Reihe, die mit Berlusconi, Putin und Erdoğan begonnen hat. Gehört nicht auch Boris Johnson zu ihr? Statt Berufspolitik, Expertenwissen und Protokoll herrschen nun Schlagfertigkeit, schnell wechselnde Ansichten, Agieren aus dem Bauch heraus, Taktik statt Strategie - und die prunkvolle Kulisse, das goldene Haus, der verzierte Thron, die aufgerissenen Flügeltüren. Coolness war gestern, heute donnert der nächtliche Tweet wie ein wilhelminischer Aktenvermerk an alle. Nero, Nero! Es war der römische Kaiser des ersten Jahrhunderts, der es vorgemacht hat: Regieren als Gespräch mit dem Zirkuspublikum, die Ästhetik der Überrumpelung. Die alten Eliten sagen zuerst, das geht nicht, und siehe, es geht doch. Jedenfalls eine Zeit lang. Darauf müssen wir uns einstellen. Meist allerdings war das Ende bitter: Gerade die beifallsüchtigsten Herrscher traf die tiefste Verachtung der Nachwelt.

Gustav Seibt

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Alltag in Terrorzeiten

Dass besondere Vorfälle besondere Ausnahmebestimmungen nach sich ziehen, ist normal. Wie normal kann aber die Ausnahme werden? Dafür gibt das abgelaufene Jahr einige Anhaltspunkte. In Frankreich, wo der Ausnahmezustand seit den Bataclan-Anschlägen schon fünfmal verlängert wurde, stehen mittlerweile knapp hundert Radikalisierungsverdächtige unter Hausarrest, und man weiß vom ständigen Umstülpen der Handtasche bei Sicherheitskontrollen nicht mehr recht, welches die Innen- und welches die Außenseite der Tasche ist. In der Türkei brachte der Ausnahmezustand seit letztem Sommer Zehntausende ins Gefängnis. In den USA gibt es je nach Gewaltlage lokale Ausnahmezustände, seit 9/11 aber auch schon eine solche Gewöhnung an Identitätskontrollen, dass man, würden sie abgeschafft, um seine eigene Identität bangen müsste. In Deutschland braucht man für schärfere Abschiebepraxis oder mehr Videoüberwachungskameras einstweilen keine Notstandsverordnung. Überall ist im Jahr 2016 die Grenze, an welcher Rechtsstaatlichkeit und innere Sicherheit sich aneinander reiben, ein Thema virulenter Auseinandersetzung geworden. Die demokratische Normalität hat dabei ihre gute Laune und einen Teil ihres Selbstvertrauens verloren. Vielleicht ist sie aber auch weiser geworden. Wir haben gelernt, dass Recht und individuelle Freiheit nicht die Regel, sondern eine immer wieder nur vorläufige Ausnahme sind. Um sie zu perpetuieren, ist man gerne bereit, seine Taschen zu leeren und Abstriche bei der Bewegungsfreiheit in Kauf zu nehmen. Eher als neue Sonderbefugnisse für Polizei und Armee brauchen wir im kommenden Jahr aber klarere Vorstellungen darüber, wie viel Ausnahme das Provisorium Demokratie verträgt.

Joseph Hanimann

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Urbane Gebiete

Sie ist so unscheinbar und schüchtern, dass sie kaum einer kennt: die Novelle des Baurechts. Trotzdem hat sie, verabschiedet vor wenigen Wochen, Folgen für Millionen Menschen. Diese leben nämlich in zunehmender Anzahl in Städten. Die Folge: In den Ballungsgebieten wird Wohnraum immer knapper und zugleich immer teurer. Die Novelle könnte hier für Abhilfe sorgen, denn sie vereinfacht den Bau von Wohnraum auch dort, wo er aus baurechtlichen Gründen bislang unmöglich war. Zu diesem Zweck hat sich das Bauministerium eine weitere Spezifikation ausgedacht: Neben dem Wohnviertel, dem Gewerbe- und dem Mischgebiet gibt es in Zukunft auch "urbane Gebiete". Die sind grundsätzlich innenstadtnah und ähneln dem schon bekannten Mischgebiet. Aber: Hier darf nun deutlich höher und dichter gebaut werden als bislang. Außerdem dürfen Werkstätten, Gastronomie, Schulen, Clubs und Wohnungsbauten in unmittelbarer Raumnachbarschaft koexistieren. Eigentlich könnte man sagen, dass es diese Erfindung schon länger gibt. Sie heißt - im Gegensatz zu Schlafvororten und Pendlergehegen: Stadt. Aber schön ist es trotzdem, dass nun auch die Politik findet, dass es sich darin ganz gut leben lässt.

Gerhard Matzig

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Puppen in der Kunst

Sie sind jetzt Legion. Waren Puppen vor ein paar Jahren noch echte Hingucker, wo zeitgenössische Kunst installiert wurde, so gibt es kaum noch Ausstellungen, wo es um Bildhauerei oder Installation geht, die ohne eine Puppe so richtig fertig wirken. Von den Schaufensterpuppen bis zur Nofretete-Büste, die Isa Genzken ausstaffiert mit Brillen, Blumen, Lederjacken, bis zu den komplizierten Robotern, die Goshka Macuga in Japan in Auftrag gibt. Jordan Wolfson lässt einen kindgroßen Hampelmann an Ketten durch den Raum schleifen, Andro Wekua lässt ein mechanisches Mädchen schüchtern mit den Fingern spielen. Zuletzt feierte die Kunst an der Wende zum 20. Jahrhundert den automatischen Körper und die industriell hergestellten Modelle für die Kaufhaus-Auslagen - den Surrealisten ging es um Erotik und Warenwelt. Die Puppen, die jetzt in die Kunst einziehen, könnten uns helfen, in einer Welt anzukommen, in der nicht nur der glatte Arm aus Silikon ersetzt, animiert, aufgerüstet wird. In einer Gegenwart, in der die Technik uns schon längst unter die Haut gekrochen ist.

Catrin Lorch

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Revolution der Gentechnik

Als die Wissenschaft das menschliche Genom entschlüsselte, begann ein Zeitalter, das es den Menschen erlaubte, ihr Erbgut zu lesen. Nun können sie es auch umschreiben. Das Programm heißt CRISPR. Das funktioniert wie ein Skalpell, mit dem man Teile der DNA entfernen und durch neue Stränge ersetzen kann. Nimmt man an einer der Vorführungen teil, ist man aber vor allem verblüfft, wie gering der Aufwand ist. Hat man die DNA-Stränge erst einmal verstanden, ist die Veränderung eines Genoms mit CRISPR auf einem ganz normalen Computer so einfach wie die Arbeit an einem Text. Das Rohmaterial eines Genoms kann man inzwischen für zweistellige Summen beim Fachhandel beziehen. Noch sind die Experimente harmlos. Man kann zum Beispiel Hefe zum Leuchten bringen. Die Möglichkeiten sind allerdings so groß wie die Gefahren. Deswegen war das erste Moratorium führender Wissenschaftler, um ethische Richtlinien zu überlegen, auch sicher nicht das letzte.

Andrian Kreye

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Die Renaissance des Jazz

Der Film "La La Land" des amerikanischen Regisseurs Damien Chazelle ist, so scheint es, ein Werk von kommerziell durchtriebener Nostalgie. Fred Astaire und Ginger Rogers scheinen wiederzukehren, alte Musikfilme wie "Singin' in the Rain" (1952) und "Die Regenschirme von Cherbourg" (1964) tauchen auf mitsamt der absurden Gewohnheit, sich singend über die Dinge des Lebens zu verständigen. Das Ganze ist so beschwingt und romantisch, dass man sich vermeintlich schnell darauf einigen könnte, es hier mit einer abgefeimten Einladung zur Weltflucht zu tun zu haben. Zwei Elemente des Films stehen einer solchen Deutung jedoch entgegen: zum einen, dass Emma Stone und Ryan Gosling, die Hauptdarsteller, weder so gut singen noch so gut tanzen wie Fred Astaire und Ginger Rogers. Der Film macht keinen Hehl daraus. Er besteht auf einem Unterschied im technischen Können, der nur durch lange Jahre des Übens aufgehoben werden könnte. Zum anderen ist die Musik, die diesen Film antreibt, weder Rock noch Schlager, sondern der Jazz - in mehreren Varianten, doch immer auf der Höhe seiner künstlerischen Möglichkeiten und mit großer Ehrerbietung gegenüber dem schwarzen Bebop. Der Jazz, das ist in diesem Film die Sphäre der Erfahrung und der Kunst - und mithin das Gegenteil von Kreativität und Selbstmobilisierung. Dem Jazz ist ein Club gewidmet, die Flexibilität geht auf Tournee. Der Jazz ist das vom Leben Gezeichnete, der Rest ist mediale Selbstverwertung. Selbstverständlich lässt sich auch diese Idee vermarkten, genauso wie man Schallplatten aus Vinyl verkaufen kann (auch sie sind weniger Ikonen der Sinnlichkeit als vielmehr Sinnbilder des Verschleißens). Aber es bleibt in ihnen ein Rest von Kulturkritik lebendig: So wie in dem abgewetzten Klavierschemel, auf dem in "La La Land" einst der Pianist Hoagy Carmichael saß und der jetzt den kostbarsten Besitz des Helden bildet.

Thomas Steinfeld

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Der Krieg im Netz

Mit den neuen Kriegen waren in den Neunzigerjahren asymmetrische Kampfmethoden gemeint wie Guerilla- oder Terrorstrategien. Den Cyberwar, obwohl er schon damals Gestalt annahm, hatte man noch nicht im Blick. Dabei kennt auch er weder förmliche Kombattanten noch eine Grenze zwischen Krieg und Frieden. Ja, radikaler als die neuen Kriege lässt er alle herkömmlichen Kampfformen hinter sich, weil Gegner gar nicht mehr physisch angegriffen, sondern durch bloße Software geschädigt werden, was im Ernstfall ähnlich verheerend sein kann. Klassisches Kriegsrecht versagt hier, schon weil der Angreifer meist nicht zu identifizieren ist. Im Cyberspace herrscht wieder Wilder Westen, nur eben hinter Masken. Doch spätestens seit der US-Präsidentenwahl ahnen wir, was es heißt, wenn im Netz nicht nur um Infrastruktur, sondern um Kommunikationsherrschaft gekämpft wird. Wer Wahlen im Netz manipuliert, manipuliert die demokratische Selbstverständigung. Der Clou ist, dass man auch mit wahren Meldungen attackieren kann. Fake News verleumden den Angegriffenen, True News (etwa gehackte E-Mails) stellen ihn bloß. Im Cyberwar kann Wahrheit ebenso zur Waffe werden wie Unwahrheit.

Andreas Zielcke

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Nostalgie als Ware

Die Idee, Altes neu zu verpacken, ist nicht neu. Doch 2016 führte sie zu neuen Exzessen. Stichwort Hochpreis-Nostalgie, oder: Boxen-Schwemme. Die dicke Bob-Dylan-Box "The 1966 Live Recordings" mit 36 CDs und jedem einzelnen konservierten Mucks, den Dylan 1966 auf Tour von sich gab, war für vergleichsweise günstige 120 Euro zu haben, die XXL-Ausgabe von "The Walt Disney Film Archives" im Taschen-Verlag, mit Essays, 1500 Fotos und Faksimile-Portfolio, kostete 400 Euro. Die Frage, wer das alles überhaupt anhören, durchblättern oder lesen soll, führt schon in die Irre. Es geht ja einerseits genau darum, sich die eigene Nostalgie für viel Geld so reich auszupolstern, dass es sich potenziell noch endlos in Erinnerungen vertiefen ließe, die man selbst gar nicht hatte. Andererseits kauft man die haptisch häufig bombastisch gestalteten Boxen in vollem Bewusstsein, dass die eigene Lebenszeit nie ausreichen wird, um sich ihren gesamten Inhalten zu widmen. Ja, das reizvoll Paradoxe der Nostalgie-Boxen liegt darin, dass sie gewissermaßen Grabsteine und Zukunftsversprechen in einem sind.

Jan Kedves

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Literaturnobelpreis für Songtexte

Als Bob Dylan der Literaturnobelpreis zugesprochen wurde, sahen das viele nicht bloß als überfällige Auszeichnung für die berühmten Songs und Songtexte des 75-jährigen Musikers. Es war für sie auch eine Art offizielle Beförderung von Pop-Texten zu einer Gattung anspruchsvoller Dichtung. Lyrics wurden als Lyrik geadelt. Einzig die Frage, ob das der Pop oder doch eher der Nobelpreis nötiger hatte, blieb strittig. Aber wie auch immer man es sehen mag: Den guten Lyrics der Zukunft wird es schon nicht schaden.

Jens-Christian Rabe

© SZ.de/luc
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