50 Jahre Hitchcocks Psycho:Bereit zum Eklat

Mit zwei billigen, aber provokanten Filmen leiteten vor 50 Jahren Hitchcock und Godard die Moderne des Kinos ein: "Psycho" und "Außer Atem" waren echte Krisenfilme - und schockierten nachhaltig.

Fritz Göttler

Der wirklich schockierende, der richtig schmerzhafte Moment in "Psycho" war gar nicht der berühmte Mord unter der Dusche. Jenes Kabinettstückchen einer fast abstrakt choreographierten Abschlachtung, das als vorbildlich gilt für die Kunst, durch kühle, überlegte Montage emotionale Effekte beim Zuschauer zu provozieren. Nein, am heftigsten wurde damals zusammengezuckt bei der Szene im Klo - als, wir erinnern uns, die flüchtende Marion Crane (Janet Leigh) sich nach dem Gespräch mit Norman Bates (Anthony Perkins) im Motel eines anderen besonnen hat, das unterschlagene Geld zurückgeben will, auf einem Zettel ausrechnet, wieviel sie von den 40.000 Dollar schon ausgegeben hat, den Zettel dann in Fetzen zerreißt und die Toilette runterspült ...

LEIGH

Der wirklich schockierende Moment in "Psycho" war nicht der Mord an Janet Leigh unter der Dusche, sondern die Szene auf dem Klo: Spülgeräusche waren bis dahin in Hollywood absolut tabu.

Ein solches Rauschen war bis dahin im Hollywoodkino absolut tabu, und Alfred Hitchcock brauchte all seine subtilen Überredungskünste, um die Männer im Verleih und von der Selbstüberwachungsinstanz der amerikanischen Filmindustrie, die den Production Code durchsetzte, dazu zu bewegen, sie drin zu lassen.

"Psycho" war eine Provokation vor fünfzig Jahren, als knallharter Test konzipiert, und das gleiche gilt für "Außer Atem/A bout de souffle" von Jean-Luc Godard. Zweimal tollkühne Avantgarde, in zwei verschiedenen Produktionssystemen und Gesellschaften. Mit diesen beiden Filmen ist, im Sommer 1960 eine Epoche des Kinos zu Ende gegangen, die große Zeit des Studiosystems, das nach dem Krieg mit Glamour, Breitwand, Stereophonie noch einmal triumphiert hatte.

Mit diesen beiden Filmen, sehr billig und in wenigen Wochen gedreht, in glanzlosem Schwarzweiß, beginnt tatsächlich die Moderne des Kinos - und andere um die gleiche Zeit entstandene Filme, von Antonioni, Bergman, Buñuel, werden dies bestätigen. Eine radikale Veränderung der Produktionsmittel und der Sehgewohnheiten, die langsam aber sicher die Kinoperspektive zernichten sollte - heute noch mal gesteigert durch die neuen Medien, Video, Mobilphon, Internet. Auch die Lässigkeit und Freizügigkeit des Erzählens waren neu, der Schock von damals vibriert immer noch nach, wenn man die Filme heute wiedersieht.

Von zwei verschiedenen Seiten her wurde da das Kino aufgemischt - der alte Meister Hitchcock, der in den Fünfzigern einen Erfolg nach dem anderen vorgelegt hatte, als Filmemacher und als Selbstvermarkter, bis zu "Vertigo" und "North by Northwest", und der junge Cineast Godard, der nach Lehrjahren in der Pariser Cinémathèque und bei den Cahiers du Cinéma nun endlich selber Filme machen will, auch er ziemlich clever in der Selbstdarstellung. Das Band der Verehrung eint die beiden - man muss wohl "Psycho" auch als eine Reverenz Hitchcocks an seine jungen Verehrer und Kollegen in der Nouvelle Vague sehen, er folgt ihnen, wenn sie die Abkehr vom Studiosystem propagieren. 800.000 Dollar hat "Psycho" gekostet, mit kleinem TV-Team gedreht, Godard ging noch ein wenig weiter, schob seinen Kameramann Raoul Coutard im Kinderwagen über die Champs-Elysées, Belmondo und Jean Seberg beim Flanieren folgend.

Sex in der Mittagspause

Bei der Montage zerhackte er seine Einstellungen nach dem Jumpcut-Prinzip - "wie ein blinder Koch seine Salate zerschnippelt", schreibt David Thomson, mit jener liebevollen Respektlosigkeit, die seine filmhistorische Arbeit so einzigartig macht. Thomson hat in den letzten Wochen die Bedeutung der beiden Filme skizziert, zu "Psycho" hatte er Ende 2009 bereits ein Buch vorgelegt, "The Moment of Psycho: How Alfred Hitchcock Taught America to Love Murder" (Basic Books). Eine frühe Begegnung mit "Psycho" findet sich im legendären Buch "Suspects", in dem er das Leben großer Filmfiguren fortspinnt, Norma Desmond, Hank Quinlan, Travis Bickle - Norman Bates ...

Gespickt mit herablassenden Männerblicken

Hitchcock und Godard, das ist eine neue Unabhängigkeit, kühnes Independent-Kino, in den Formen konsequent und zum Eklat bereit. Eine Serie von Ordnungswidrigkeiten, Regelverletzungen, Tabubrüchen. Hitchcock wollte einen hässlichen, unangenehmen Film machen - nastiness attestiert ihm Thomson -, mit Sex und Gewalt und Blut. Betten sind wichtige Schauplätze, Belmondo und Seberg meditieren darin, Janet Leigh und ihr Freund werden gleich in der ersten Szene von "Psycho" von der Kamera beim Sex in der Mittagspause observiert, der alltägliche Voyeurismus, die Gewalt der Blicke: "Psycho" ist gespickt mit herablassenden Männerblicken. Obszön wedelt der Millionär im Immobilienbüro Janet Leigh mit seinem nackten Geldbündel vor der Nase herum. Geld und Geilheit, man sieht solche Szenen heute, in der Zeit gesellschaftlicher Polarisierung, mit eigentümlicher Beklemmung.

Der Schock war gewaltig nach dem Start von "Psycho" und auch der Liebesentzug, den Hitchcock verkraften musste. Viele Kritiker hatten Probleme, manche taten den Film, auch Pauline Kael, als bösen Joke ab. Kael war auch bei "Außer Atem" zurückhaltend - hohl und leer fand sie Belmondo und Seberg, "man bleibt mit der schrecklichen Ahnung zurück, dies sei eine neue Brut, gezüchtet im Chaos". Das Publikum hatte weniger Probleme, spielte in beiden Fällen mit. Don't give away the ending, bat Hitchcock, it's the only one we have.

Das Amerika in "Psycho" hat seine Unschuld verloren, der Film markiert das Ende der Nachkriegsgeborgenheit. Hier sehen wir das Hinterland, das Gothic America, abseits der Highways, wo das Leben im Absterben begriffen ist. Desillusionierung, Perspektivlosigkeit, amerikanische Einsamkeit. "Kein Land", schreibt David Thomson, "lebt so sorglos oder unbehaglich mit den gegensätzlichen Idealen von Orgie und Restriktion ... kein anderes Land hat so aggressive Impulse Richtung Libertarismus und Restriktion ... Die meisten Filme der Fünfziger sind heimliche Werbestücke für den American Way of Life. ,Psycho' ist eine Warnung vor seinen Lügen und Limits."

Mit der Arbeit an diesem Umbruch hat Hitchcock bereits Mitte der Fünfziger begonnen - mit der TV-Serie "Alfred Hitchcock Presents", die im Grund ein boshaftes Krisentheater ist. Eine Serie von verzweifelten (oft: kriminellen) Ausbruchsversuchen, gescheiterten Hoffnungen, tölpelhaften Manövern des Mittelstands. Überall Enge und Obsession, die erste halbe Stunde von "Psycho" ist Kleinbürgerklaustrophobie pur. Sie wird erst beseitigt mit dem Duschmord - und mit ihr das Kino als moralische Anstalt. Auch Norman Bates wählt zwischen dem Leiden und dem Nichts, dieser Existentialismus verbindet ihn mit den Kids von Paris und ihrem mörderisch lässigen, verantwortungslosen ennui.

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