Süddeutsche Zeitung

Jacques Stéphen Alexis: "Der Stern Wermut":Hochspannungsliebe

Was für eine glänzende Entdeckung: Der haitianische Schriftsteller Jacques Stéphen Alexis und die letzte seiner magischen politischen Parabeln auf das Schicksal seines Landes.

Von Johanna Nuber

Auf der ersten Seite klafft eine Lücke, doch sie rührt nicht von der sengenden Sonne, die im Eingangssatz als "infraroter Vogel" ins karibische Meer gestürzt ist. Sie ist ein Zeichen der Zeit, die einzelne Wörter im Manuskript ausgebleicht hat. Sechzig Jahre trennen die posthume Veröffentlichung von "Der Stern Wermut" und seine Entstehungszeit um 1960. Es ist das letzte literarische Projekt des großen haitianischen Schriftstellers Jacques Stéphen Alexis. Mit Blick auf die Biografie des Autors stehen die Leerstellen im Text auch für die Unzeit, zu der dem Dissidenten gewaltsam das Leben geraubt worden ist.

Im April 1961, wenige Tage nach der Invasion amerikanischer Truppen in der Schweinebucht, besteigt Alexis in Kuba ein Schiff, um nach langem Exil im sozialistischen Ausland in seine totalitär beherrschte Heimat zurückzukehren. Noch am Strand wird er von der Militärpolizei verhaftet und in ein Foltergefängnis verschleppt. Unter dem Einfluss der Dekolonisierungsbewegung hatte er 1956 in Paris die Teilnehmenden des "Ersten Kongresses der Schwarzen Künstler und Intellektuellen" auf ein "literarisches Bandung" eingeschworen, ein Pendant zu politischen Dekolonisierungsbewegungen, auf die sich die Länder der "dritten Welt" im indonesischen Bandung verständigt hatten. Er selbst hätte es nicht mehr erlebt: Der Tag, an dem Alexis ermordet wird, ist sein 39. Geburtstag.

Ein tropisches Unwetter lässt alle Hoffnung im Meer versinken

Wie das Leben des Arztes und Kommunisten ist auch "Der Stern Wermut" unvollendet geblieben. So wenig von Alexis letzten Stunden bekannt ist, so ungewiss ist, ob der Protagonistin Églantine die "Rekonstruktion ihres Herzens" gelingt, die ihr "bittersüßer Überlebenskampf" leisten soll. Églantine desertiert - vor ihrem Namen, ihrer Beschäftigung als Sexarbeiterin im Hafenmilieu von Port-au-Prince und einer "Hochspannungsliebe", deren elektrische Ladung nicht nur negativ, sondern toxisch ist.

1959 veröffentlichte Alexis den Roman "L'espace d'un cillement". Darin erzählte er ausführlich von jener gefährlichen Romanze zwischen El Gaucho, einem rebellischen Hafenarbeiter und Zuhälter im Nebenberuf, und Eglantina, wie er aus Kuba stammend und in der "Sensation Bar" nur als "La Niña Estrellita" bekannt. In dem Fragment einer Fortsetzung ist die Ausgangslage so einfach wie raffiniert: Als gefeiertes "Sternchen" hat sich Eglantina einen dürftigen Kredit erwirtschaftet, womit sie mit einer Bekannten ein Segelschiff samt Besatzung chartert und die gefährliche Überfahrt zur "Großen Saline" wagt.

Durch den Einstieg in den Salzhandel hoffen die Frauen den Ausbeutungsverhältnissen zu entkommen, die die karibische Insel seit der Errichtung der ersten Zuckerplantage im Griff haben. Doch bevor die nervenaufreibende Erzählung satzzeichenlos verebbt, wird die Geschäftsidee von einem tropischen Unwetter durchkreuzt, das zwar die Salzkristalle umso leuchtender funkeln lässt, alle Hoffnungen aber ins tosende Meer stürzt. Im haitianischen Kontext ist der politische Symbolgehalt dieses Schiffbruchs kaum zu übersehen: Églantines Versuch, ihre Unfreiheit durch unternehmerisches Geschick zu überwinden, scheitert genauso wie die wiederholten Versuche der haitianischen Bevölkerung, sich aus dem unheilvollen Sog aus Enteignung, Versklavung, Besatzungspolitik und Despotismus zu befreien.

Die letzte deutsche Ausgabe von "L'espace d'un cillement" liegt lange zurück, übersetzter Titel ("Die Mulattin") wie Buchcover (eine "Mulattin") wirken heute wie ungenießbare Früchte zu lange gereifter Männerfantasien. Dass Alexis durch sein ungestümeres Spätwerk neu zu entdecken ist, verdankt sich der Initiative des Litradukt-Verlags, der sich seit Jahren um die Vermittlung haitianischer Literatur bemüht, und der Übersetzung von Rike Bolte, die zwar ab und an zu übersteuern droht, sich aber genau darin als passendes Pendant zum nervenaufreibenden Originaltext qualifiziert.

Alexis' unter tragischen Umständen entstandenes Spätwerk vergegenwärtigt Facetten postkolonialer Literatur, die auch in aktuellen Debatten häufig zu kurz kommen. Sein literarischer Absinth-Stern verbindet synästhetische Wahrnehmungsexzesse mit starker politischer Symbolik und einer surreal anmutenden Bildsprache. Alexis, der einen spezifisch haitianischen Beitrag zum damals noch wenig bekannten magischen Realismus leisten wollte, gewinnt seine Stoffe aber keinem mysteriösen Traumreich ab, sondern historisch vererbten Verhältnissen sozialer Not und Entfremdung. Viel eher als surrealistisch müsste man ein solches Schreiben als sursozialistisch bezeichnen.

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