Jacob Burckhardt zu Renaissance in Italien:Explosion des Neuen

The 'Carta della Catena' showing a panorama of Florence, 1490 (detail of 161573)

Die höchste politische Bewusstheit, den größten Reichtum an Entwicklungsformen finde man vereinigt in der Geschichte von Florenz, hier treibe ein ganzes Volk das, was in den Fürstenstaaten die Sache einer Familie, so Burckhardt. Die Carta della Catena zeigt ein Panorama der Stadt im Jahr 1490.

(Foto: Bridgeman)

Am 25. Mai 1818 wurde Jacob Burckhardt geboren. Sein Hauptwerk wurde nun kritisch ediert. Die "Cultur der Renaissance in Italien" schildert eine Welt voller Willkür, Grausamkeit und Ehrgeiz.

Von Gustav Seibt

Noch vor seinem dreißigsten Geburtstag hat sich Jacob Burckhardt in aller Form von der Gegenwart losgesagt. "Ihr Wetterkerle wettet Euch immer tiefer in diese heillose Zeit hinein", schrieb er Anfang 1846 an einen Freund, "ich dagegen bin ganz im stillen, aber komplett mit ihr überworfen und entweiche ihr deshalb in den schönen faulen Süden, der der Geschichte abgestorben ist und als stilles, wunderbares Grabmonument mich Modernitätsmüden mit seinem altertümlichen Schauer erfrischen soll." Und dann folgt eine Aufzählung all dessen, wovor der 28jährige floh: Radikale, Kommunisten, Industrielle, Hochgebildete, Anspruchsvolle, Reflektierte, Staatsfanatiker, "aner und iten aller Art" - eine Galerie der Zeitgenossenschaft.

Es bleibt eins der großartigsten Schauspiele der Geistesgeschichte zu sehen, wie das folgende Jahrzehnt Burckhardt wieder in die Gegenwart zurückführte, auf dem Umweg umfassender historischer Studien. Burckhardt verbrachte Jahre auf Eseln und in Kutschen, in den jungen Eisenbahnen, um all das zu sehen, was er 1855 im "Cicerone", der Anleitung zum "Genuss der Kunstwerke Italiens" leidenschaftlich knapp beschrieb. In Tausenden einsamen Stunden in den Bibliotheken häufte er die Quellen an, die den beiden Meisterwerken über die "Zeit Constantins des Großen" und die "Cultur der Renaissance" zugrunde lagen.

Er leugnete die Kenntnis von Werken, die er genau gelesen hatte

Der "Constantin" erschien 1852, die "Renaissance" 1860. Danach hat der erst 42 Jahre alte Gelehrte bis zu seinem Tod 1898 nur noch Kleinigkeiten publiziert. Drei weitere Hauptwerke, die "Weltgeschichtlichen Betrachtungen", die "Griechische Culturgeschichte" und die "Vorlesungen zum Revolutionszeitalter" erschienen erst aus dem Nachlass, zu Ende formuliert von Erben und Philologen - das Revolutionsbuch sogar erst 2009. Der Rückzug von der Welt betraf auch den neuen arbeitsteiligen Wissenschaftsbetrieb.

Einer der kuriosesten Funde der neuen kritischen Ausgabe der "Cultur der Renaissance", die jetzt zum 200. Geburtstag herauskommt, ist, dass Burckhardt in den Fußnoten die Kenntnis von Werken leugnet, die er ausweislich seiner Exzerpte genau gelesen hat. Auch das eine, erst heute erkennbare, Finte gegen die "viri eruditissimi" (die Höchstgelehrten) der Fachwelt, mit denen er nichts zu tun haben wollte.

Die neue Ausgabe hat vor allem das Verdienst, die ursprüngliche Textgestalt des von Dutzenden Nachdrucken arg überformten Buches wiederherzustellen, so die hübschen Randglossen. Dass lateinischstämmige Wörter wie "Cultur" mit C geschrieben werden, erfüllt einen ausdrücklichen Wunsch des Verfassers. Klugerweise hat man darauf verzichtet, die mehr als 1200 überlieferten Quellenexzerpte vollständig mitzuedieren, auf die Burckhardt sein Buch gebaut hat. Doch zitieren die Fußnoten sie exemplarisch und zeigen dabei, wie Burckhardt schon beim Ausschreiben der Quellen seine Formulierungen erprobte - lange Passagen des Renaissance-Buchs sind Paraphrasen aus dem Originalmaterial. Auch darum dürfte es so unüberholbar frisch sein.

Der Weltflüchtling von 1846 ist 1860 längst wieder in der Gegenwart angekommen. Denn seine Renaissance ist kein Reich der Schönheit - die Kunst gliederte er absichtsvoll aus -, sondern ein Ort von Grausamkeit, schrankenlosem Ehrgeiz ("Ruhm"), hemmungsloser Selbstverwirklichung ("Individuum"), Prunksucht und Eitelkeit (bei Festen und in gelehrten Schriften), des religiösen Zweifels. Der Staat? Ort experimentierender Willkür, schrankenloser Tyrannis, "absoluter Bösewichter". Die Religion? Ein Spott der Gebildeten, flankiert von Aberglauben und Hexenfurcht, astrologisch grundiert, halb heidnisch, im Kirchlichen zynisch konventionell. Nur die deutsche Reformation konnte dieses herabgekommene Christentum noch einmal retten - dieser Gedanke Nietzsches stammt von Burckhardt.

Mit diesem Bild der Willkür - in manchem erinnert es an heutige Zustände in schnell zu Wohlstand kommenden Schwellenländern - wurde die Renaissance zur "nächsten Mutter unserer Civilisation". Der Ton, in dem Burckhardt sein Bild mit tausend Einzelheiten zeichnet, schwankt zwischen trockenem Humor und ruhigem Entsetzen. Er weiß, dass die Macht "an sich böse" ist, auch wenn sie für den Staat "als Notform" unentbehrlich bleibt. Die "Cultur der Renaissance" zeigt mit ihren Eckkapiteln zu Staat und Religion schon die Potenzenlehre der "Weltgeschichtlichen Betrachtungen", die vor kurzem mit einem burckhardtisch-leichtfüßigen Nachwort von Jürgen Osterhammel in der aus Vorlesungsnotizen gewonnenen Form Jakob Oeris nachgedruckt wurden.

Jacob Burckhardt

Der heillosen Zeit in den Süden entfliehen: Jacob Burckhardt (1818-1897)

(Foto: SZ)

Staat, Kultur und Religion, bedingen einander wechselseitig, sie wirken nur in Polaritäten. Staat und Religion sind dabei die stabilen Elemente, an denen sich die ewig bewegliche Kultur, der Geist, der "ein Wühler" ist, im stetigen Wechsel von Sitten und Lebensformen abarbeitet. Die Renaissance ist ein Sonderfall, weil die beiden stabilen Faktoren selbst in heller Auflösung sind - Staat und Religion werden von der revolutionären Kultur gewissermaßen verschlungen. Allerdings brachte erst der tyrannische oder republikanische Kleinstaat in Italien seit 1250 jenen Menschentypus hervor, der mit seiner Kreativität und Grausamkeit die Explosion des Neuen bewirkte. Burckhardts Schilderung der Abhängigkeiten und "Bedingtheiten" ist flexibel und variabel, immer aufmerksam auf den konkreten Fall.

Das Geheimnis seiner Denkform ist eine auf unerhörte empirische Kenntnis gestützte Kasuistik und die absichtsvoll bis ins Alter kultivierte Fähigkeit zum Staunen. Burckhardt vergleicht und wundert sich unentwegt, im Großen wie im Kleinen. Nicht "die Geschichte" interessiert ihn, sondern "das Geschichtliche", die variable Prozessform, dazu die Variabilität des Menschlichen. Er entdeckt dabei nicht feste Schemata oder zwingende Kausalitäten, sondern Ähnlichkeiten und bezeichnende Unterschiede. Von Ferne erinnert das an Max Webers Idealtypen, die sich nie rein realisieren, aber das Kriterium von Vergleichen je besonderer Fälle sind, nicht um gleichzusetzen, sondern um Besonderes zu benennen.

Wie originell und modern diese grenzenlos verwunderungsbereite Methode ist, zeigen Nebenbemerkungen. "Eine gründliche, mit psychologischem Geist gearbeitete Geschichte des Prügelns bei den germanischen und romanischen Völkern wäre wohl so viel wert als ein paar Bände Depeschen und Unterhandlungen", heißt es einmal. Die "Cultur der Renaissance" enthält Dutzende solcher miniaturisierter Monografien, in denen Burckhardt jeweils einen kleinen Sack Zitate ausleert, zu weiterer Verwendung. Umso schöner, dass die neue Ausgabe sie nun Stück für Stück nachweist und mit modernen Editionen abgleicht.

Die nicht selbstverständliche Kontinuität fruchtbar zu machen - das ist die Aufgabe

Jacob Burckhardt war bekanntlich ein Kritiker der Geschichtsphilosophie vor allem Hegels. In seinem Vortrag über "Glück und Unglück in der Weltgeschichte" führt er die Sinnlosigkeit dieser Kategorien nach seiner Art kasuistisch vor: Am Ende ist der heutige Betrachter Erbe vergangenen Unglücks, also befangen in Wünschbarkeiten.

Der Mongolensturm, ein materielles Unglück ersten Ranges, das halb Asien stillstellte, mag die Überwältigung Europas durch die Osmanen verhindert haben, also müssten wir ihn als "Glück" begreifen - solche Überlegungen führt der kleine Vortrag im Dutzend vor, um am Ende nur an einem Kriterium festzuhalten: Die Kontinuität der Überlieferung (damit meint Burckhardt vor allem die Künste) sei "ein wesentliches Interesse unseres Menschendaseins und ein metaphysischer Beweis für die Bedeutung seiner Dauer".

Das aber heißt auch: Diese Kontinuität ist gar nicht selbstverständlich, sie wird von der Zusammenhänge konstruierenden Geschichtsphilosophie zu Unrecht vorausgesetzt. Dabei gibt er zu, dass der weitgehende Verlust der Kunstwerke der Antike womöglich Bedingung der von Fesseln freien Renaissance war: Das Altertum war nur in homöopathischer Dosis erhalten, genug um anzuregen, aber nicht zu erdrücken.

"Die Fähigkeit zu Renaissancen" hielt Burckhardt für das Kennzeichen höherer Kulturen. Die gar nicht selbstverständliche Kontinuität fruchtbar zu machen - das ist die Aufgabe aller, die an der Kultur teilhaben. Es gibt dazu noch immer kaum bessere Einladungen als die Werke Jacob Burckhardt.

Jacob Burckhardt: Die Cultur der Renaissance in Italien. Herausgegeben von Mikkel Mangold u.a. (Kritische Gesamtausgabe der Werke Jacob Burckhardts, Band 4). Verlage C.H. Beck und Schwabe, München und Basel 2018. 724 Seiten, 148 Euro.

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