Liebesfilmkunst in der Triebversion: "Der alte Affe Angst"
Als man um die Jahrtausendwende herum so weit war, das deutsche Kino endgültig für hirntot zu erklären, weil es fast nur noch Filme von Trotteln für Trottel hervorbrachte, trat Oskar Roehler auf den Plan - und der deutsche Film hatte plötzlich wieder einen heftigen Pulsschlag. Er zeigte Menschen, die wie Menschen hassten, liebten, vögelten, und nicht wie Marmeladenfrühstückswerbungavatare. Ein Paradebeispiel seines Werks ist "Der alte Affe Angst", der 2003 auf der Berlinale Premiere hatte. Kurz vor dem 20. Jubiläum erscheint der Film nun nochmal neu auf DVD und in einer digital restaurierten 4K-Fassung. Wie der Theaterregisseur Robert (André Hennicke) und die Kinderärztin Marie (Marie Bäumer) durch ihr Beziehungsleben manövrieren, ist große Liebesfilmkunst in der Triebversion. David Steinitz
Ganz furchtbar überlegt: Inken und Hinrich Baller
Mintgrün und verschnörkelt, das ist für manche das Erkennungszeichen der Bauten von Inken und Hinrich Baller - und gleichzeitig der Grund, warum sie das Werk des außergewöhnlichen Architektenduos, das vor allem in den Siebziger- und Achtzigerjahren im Westen der Stadt entstand, nicht unbedingt schätzen, um das mal vornehm zu formulieren. Tatsächlich verstellt die Vorliebe der beiden für diesen speziellen Grünton den Blick darauf, was ihre Architektur auszeichnet und auch bewundernswert macht. Um zu verstehen, was das ist, sollte man die Ausstellung im Deutschen Architekturzentrum ( DAZ) in Berlin von dem Berliner Kollektiv urban fragment observatory über die Berliner Architekten sehen. Denn diese lässt nicht nur die Bewohner und Nutzer von ihren Gebäuden zu Wort kommen, sondern auch die zwei selbst. Was nicht nur angesichts des Alters der beiden - Inken Baller wird im Mai 80, ihr ehemaliger Büro- und Lebenspartner Hinrich Baller ist noch mal knapp sechs Jahre älter - ein tolles Zeitdokument ist. Denn während man den zweien zuhört, wird ihre Agenda klar. So haben sie immer darum gekämpft, räumliche Qualitäten auch im strengen Korsett des Sozialbaus mit seinen vielen Regeln und dem hohen Kostendruck unterzubringen. "Schmuggelware" nennt das Inken Baller, was sich für die Bewohner schon mal in einem "loftartigen Gefühl", so ein Mieter, ausgezahlt hat. Die Wohnungen der Ballers sind oft außergewöhnlich hell, gerade weil die Positionierung der Fenster "ganz furchtbar überlegt" war, so Hinrich Baller. Der Blick raus geht dabei gerne ins Grüne, obwohl die Häuser in Kreuzberg oder Charlottenburg stehen. Kräftig begrünte Innenhöfe, die heute, in Zeiten des Klimawandels, ein angenehmes Hausklima schaffen, waren für die Ballers Pflicht. Wie spart man Material? Wie baut man die Natur mit ein? Überlegungen, die heute dringend notwendig sind, versuchten die zwei schon vor Jahrzehnten mit ihren Bauten zu beantworten. Mit großen Fotos, kurzen Texten und Ausschnitten aus historischen Berichten bebildert die Ausstellung die Aussagen über die Architektur. Sie tut das sehr filigran, alles hängt an Schnüren, hat möglichst wenig Bodenkontakt. Das passt zu dem Wunsch der Ballers, ihre Entwürfe "federleicht" wirken zu lassen. Laura Weißmüller
Oper des Wahnsinns: "Lunea"
Der Dichter Nikolaus Lenau starb 1850 nach sechs Jahren Wahnsinn, das machte ihn für den Schweizer Komponisten Heinz Holliger interessant. Seine Oper "Lunea" über den Derweltabhandengekommenen kam 2018 am Zürcher Opernhaus heraus, Holliger dirigierte selbst, Intendant Andreas Homoki inszenierte. Nun kann man die Produktion nachhören, die vortrefflich gemachte CD erscheint nun beim Münchner Label ECM. Lenau schrieb permanent, auf viele Zettel. Der Dramatiker Händl Klaus formte daraus eine ganz eigene Motivsammlung, Holliger erfand dazu disparate, harsche, raue Klänge, Schlaglichter auf eine Existenz, die mit der Welt nicht klarkommt. Er setzt auf Wirkung, die ist enorm. Eine vielgestaltige Klangwelt, mittendrin die aberwitzig farbenreiche Figur Lenaus, gesungen von Christian Gerhaher. Egbert Tholl
Sei laut, alter Mann: Jack White
Die Kollegin war sehr streng beim SMS-Austausch vor ein paar Tagen: "Alternde Rockstars, die unbedingt weiter harte Musik machen wollen, sich dabei ein bisschen zu sehr anstrengen und vergessen, was ihre Musik mal besonders gemacht hat." Das stimmt schon. Ein bisschen zumindest. Jack White, einst Mastermind der White Stripes, bringt auf seinem neuen Solo-Album "Fear of the Dawn" (Third Man Records/Membran) ja tatsächlich alles zusammen, was sein Schaffen bislang ausgemacht hat: sehr tief in den Gain-Bereich übersteuerten Delta-Blues, mitteltief in den Gain-Bereich übersteuerten Singer-Songwriter-Folk und ein paar andere in unterschiedlich heftige Gain-Bereiche übersteuerte Genres, die zusätzlich buntere Farben einbringen. Nur alles noch ein bisschen lauter, verzerrter, angestrengter und ja, vielleicht auch ein bisschen krampfiger. Einerseits. Andererseits: Wirklich sehr viel von dem, was Jack White bislang gemacht hat, war extrem gut. Und wer, bitte, kann denn von sich behaupten, dass ein bisschen zu viel des Guten nicht hin und wieder Wunder tut? Eben. Also, wenigstens für den Moment: Sei laut, alter Mann! Im Juli soll übrigens dann gleich noch ein Album erscheinen. Jakob Biazza
Revolutionäres Genie: Molière-Doku
Auch der große Molière, bürgerlich Jean-Baptiste Poquelin, hat mal klein angefangen. Aber das ist hier nicht das Thema. Die Arte-Dokumentation "Molière und der junge König", die Priscilla Pizzato zu seinem 400. Geburtstag in diesem Jahr verfasst hat, spart die Anfänge des berühmten französischen Komödiendichters komplett aus. Sie setzt 1663 ein, als Molière bereits 41 Jahre alt und in Paris mit seinen Stücken in aller Munde war - und springt dann vier Jahre zurück, um zu erzählen, wie sich jene Beziehung anbahnte, die entscheidend werden sollte für sein weiteres Dramatikerleben: die zu dem 16 Jahre jüngeren König Ludwig XIV., seinem Bewunderer, Auftraggeber und Mäzen. Der absolute Monarch, ein Musikliebhaber und Tänzer, der damals Versailles zum Prunkschloss (auch) der Musen ausbaute, und das von ihm abhängige, die Spöttelei kultivierende, das Theater seiner Zeit revolutionierende Künstlergenie: Beide haben einander für ihre Zwecke ausgenutzt. Eine parasitäre, so faszinierende wie gefährliche Beziehung. Sie steht im Mittelpunkt dieser aufschlussreichen, aufwändig gefilmten Dokumentation über des Sonnenkönigs Liebling.
Molières Truppe hatte zuvor die Gunst von Ludwigs jüngerem Bruder, dem Herzog von Orléans, erlangt und machte mit den Stücken "Die lächerlichen Preziösen" und "Sganarelle oder Der vermeintliche Hahnrei" Furore. Das schockierend Neue an diesen Komödien war, dass sie zum ersten Mal die Gegenwart auf die Bühne brachten. Sie spiegelten - innerhalb des Wertesystems der damaligen Salonkultur - die Verhaltensweisen, Laster und Gesprächsthemen der Gesellschaft. Molière wurde deshalb auch "der Maler" genannt. Selber ein großer Schauspieler, trieb er seinen Leuten den übertrieben-pathetischen Spielstil aus und forderte "Natürlichkeit" ein, bediente sich Elementen wie der Pantomime und Grimasse aus der Commedia dell'arte. Die Ballett-Komödien, die er zusammen mit dem Hofkomponisten Jean-Baptiste Lully in Versailles schuf, können als Vorform heutiger Musicals betrachtet werden.
All diese Neuerungen arbeitet der Film ebenso heraus, wie er inhaltlich auf die wichtigsten Stücke und Themen Molières eingeht, etwa die Bildung und Emanzipation der Frau ("Die Schule der Frauen") oder die Anklage von Frömmigkeit und Heuchelei ("Tartuffe"). Der Film ist angereichert mit Spielszenen, Inszenierungsausschnitten und Interviews mit französischen Regisseurinnen und Theatermachern, darunter auch die große Ariane Mnouchkine. Deren legendärer Historienfilm "Molière" aus dem Jahr 1978 ist derzeit ebenfalls in der Arte-Mediathek zu sehen. Da kriegt man dann den ganzen Molière, von der Wiege bis zur Bahre, vier Stunden lang. Magnifique! Christine Dössel