"Jack" und "71" bei der Berlinale:Mitfühlen erwünscht

Berlinale 2014 ? '71'

Der Schauspieler Jack O'Connell (M) als Gary in einer Szene des Films "71".

(Foto: dpa)

Edward Bergers "Jack" schließt sich der Prekariats-Pornografie des Privatfernsehens an, während es in Yann Demanges Nordirland-Drama "'71" nur noch ums Überleben geht. Zwei finstere Filme im Wettbewerb der Berlinale.

Von David Steinitz

Während nach der Promi-gespickten Eröffnungs-Sause mit Wes Andersons "Grand Budapest Hotel" immer noch ein paar fröhliche "Ghostbusters"-Fans in voller Kostüm-Montur auf der Suche nach Ex-Geisterjäger und "Budapest"-Star Bill Murray über den Potsdamer Platz streunen, wird der Berlinale-Wettbewerb mit zwei finsteren Nachtstücken aus zwei vollkommen unterschiedlichen Welten fortgesetzt.

Das eine spielt nur ein paar Kilometer weiter, jenseits der Berliner Business- und Hipness-Zentren: In "Jack" - einer von vier deutschen Beiträgen, die in den Wettbewerb eingeladen wurden - erzählt Edward Berger, der unter anderem einige Folgen der hervorragenden Serie "KDD - Kriminaldauerdienst" inszeniert hat und 2012 für seine Tragikomödie "Ein guter Sommer" den Grimme-Preis bekam, von einem kleinen Jungen, der sich und seinen jüngeren Bruder versorgen muss, weil die ebenfalls noch sehr junge Mutter mit Partys und Jungs beschäftigt ist.

Leider schließt sich Berger voller Freude der Prekariats-Pornografie an, die das deutsche Privatfernsehen vor gut einem Jahrzehnt erfunden hat und der das deutsche Kino, das von den staatlichen Förderanstalten besonders gerne für Hartz IV-Melodramen mit Steuergeldern ausgestattet wird, seit einigen Jahren ebenfalls treuherzig folgt.

Permanente Mitleidshaltung

Den Zuschauer zwingt Berger mit seiner Betroffenheitsdramaturgie in eine permanente Mitleidshaltung, die so gnadenlos lange niemand mehr durchexerziert hat: Kind hat Durst und muss sich auf öffentliche Toiletten schleichen, um an Wasser zu kommen. Kind verspeist gierig einen vom allerletzten Münzgeld erworbenen Döner. Kind stößt auf drogenabhängige Exfreunde der Mutter. Kind kommt ins Heim und wird dort vom Ober-Bully windelweich geprügelt. Kind flieht aus dem Heim und sucht mit dem Brüderchen an der Hand in der suburbanen Hauptstadtnacht zwischen Pennern und Hipstern nach Mama - und trifft dabei ausschließlich auf desinteressierte und prügelnde Erwachsene, die die kulinarischen Freuden der Discounter-Produktpaletten genießen.

Das ist in dieser Penetranz deshalb so perfide, weil das Dauerleid zum aufwendigen Spezialeffekt verkommt, der auf ein reines Überwältigungskino aus ist. "Sie küssten und sie schlugen ihn", François Truffauts Ur-Verwahrlosungsfilm, endete einst am Meer. "Jack" endet im Heim. Über diese Entwicklung und die Zuchtmeisterei, die dahintersteht, sollte man vielleicht mal nachdenken.

Selber fühlen erlaubt

Viel eleganter dagegen die zweite Nachtgeschichte, mit der das erste Festival-Wochenende eingeleitet wird: "'71", das mit fast schon unheimlicher Sicherheit inszenierte Kinodebüt des gebürtigen Franzosen Yann Demange, der in London aufgewachsen ist und bislang vor allem fürs britische Fernsehen gearbeitet hat. Er ermöglicht dem Zuschauer Emotionen, zwingt ihn aber nie dazu - selber fühlen ist ausdrücklich erlaubt.

Der englische Soldat Gary (Jack O' Connell) wird im titelgebenden Jahr nach Belfast geschickt, mitten in den tobenden Nordirlandkonflikt, wo paramilitärische Einheiten auf beiden Seiten die Gewalt in immer brutalere Dimensionen treiben und der "Konflikt" längst zum gnadenlosen Bürgerkrieg geworden ist. Im ruckelnden, tarnfarbenen Geländewagen, durch dessen löchrige Abdeckplane ab und an die Sonne blitzt, werden die Soldaten ins Stadtzentrum transportiert und ausgeladen - und erst mal von Schulkindern mit Wasserbomben beworfen, in die diese vorher gepinkelt haben. Intervention unerwünscht.

An der Falls Road, die nicht nur die Stadt, sondern auch das protestantische vom katholischen Lager teilt, bricht bei einer Hausdurchsuchung im katholischen Viertel, die Gary mit seinen Kameraden durchführen muss, das Chaos aus. Ein englischer Soldat wird erschossen, Gary von seiner Einheit getrennt, gejagt von ein paar katholischen Kids, die gern noch ein paar weitere Brits erlegen würden.

Im Labyrinth von Licht und Schatten

Nachts dann versucht Gary sich zum britischen Lager durchzuschlagen und begegnet Menschen, deren Physiognomie durch wenig Schlaf, viel Whisky und noch mehr Druck geformt worden ist. Und wie Regisseur Demange in diesen labyrinthischen Nacht-Sequenzen mit Licht und Schatten spielt, während sein Protagonist sich wie ein gehetztes Tier durch die engen, fremden Gassen schleicht, das ist irre beklemmend. In einer Szene sind Molotowcocktails, die in unregelmäßigen Abständen auf dem umkämpften Pflaster explodieren, die einzigen Lichtquellen - bis man vollkommen den Überblick verliert.

So heftig hat man diese Phase der jüngeren UK-Geschichte lange nicht mehr im Kino gesehen, die bekannteren Filme über den Terror in Nordirland sind schon eine Weile her: Neil Jordans "The Crying Game" von 1992 oder Paul Greengrass' "Bloody Sunday" - der 2002 ebenfalls im Wettbewerb der Berlinale lief und mit dem Goldenen Bären für den besten Film ausgezeichnet wurde.

Waren diese Filme wirklich reine Nordirland-Dramen, versteht Demange "'71" aber mehr als eine allgemeine Parabel auf Paranoia und Obsessionen, die sich immer weiter und weiter spinnen, bis der Druck so groß wird, dass es einfach einen Knall geben muss. So konspirativ untereinander verstrickt sind alle Parteien in diesem Film, so viel trägt jeder Beteiligte zum großen Domino-Effekt bei - auch der anfangs noch so großäugige Gary -, dass Ideologie, Herkunft und Religion irgendwann gar keine Rolle mehr spielen, weil es einfach nur noch ums Überleben geht.

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