Klassikkolumne:Teufelei und Trauermarsch

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Die Sopranistin Miriam Feuersinger garantiert bei Bach in Kriegszeiten genug Tröstung, Entlastung, Erhöhung. (Foto: Christophorus)

Der Pianist Ivo Pogorelich ist berühmt für seine völlig unkonventionellen Stückdeutungen. Jetzt entdeckt er Ungehörtes bei Frédéric Chopin.

Von Wolfgang Schreiber

Der Code BWV, nicht zu verwechseln mit BMW, dem Autobauer, zählt zu den sakrosankten Erkennungszeichen der Klassikmusikwelt. Gemeint ist das Bach-Werke-Verzeichnis, Katalog der Musik von Johann Sebastian Bach. Dort stehen auch die Titel der über 200 Kantaten mit ihren barocken Gelöbnissen von Gottesglaube und Beseligung oder Teufelei und Leid. Die Sopranistin Miriam Feuersinger gestaltet mit dem Capricornus Consort Basel neben der Kantate Nr. 84 "Ich bin vergnügt mit meinem Glücke" auch die fromm und sanft den eigenen Tod und das Paradies feiernde Kantate Nr. 82 "Ich habe genug". Garantiert denn Bach auch in Kriegszeiten genug Tröstung, Entlastung, Erhöhung? Man hofft es. Die Sängerin bewegt sich in der Kantatenwelt mit der Natürlichkeit und Klarheit ihrer schönen Stimme, mit der Frische ihrer Empfindung. (Christophorus)

(Foto: N/A)

Nicht nur Bach, alle Kunst und Musik verweigert den gewöhnlichen Pragmatismus und lenkt den Strom in Richtung Transzendenz, oft nahe am Sakralen. Wolfgang Rihm, gerade 70 geworden, hat sich auf manche Entwürfe religiösen Urgrunds eingelassen, er wagte freie Passions- und Requiemmusiken, überraschte 2020 mit einem "Stabat Mater", der mittelalterlich-lateinischen, bizarr emotionalisierten Mariendichtung. Rihm schrieb das Stück für Tabea Zimmermann, die großartige Bratschistin, und den Charakterbariton Christian Gerhaher. Beide führten das Stück in Berlin, dann bei der Musica Viva in München auf, wollten mit ihrer perfekten Klangdisziplin aufzeigen, dass Rihm weniger das fromm Litaneihafte der zehn Doppelstrophen interessierte, vielmehr der "immer offener hervorbrechende Erotismus dieses eigenartigen Textes". Wie die Solo-Instrumentalistin und ihr Sänger diese Musik zwischen Erregung und Lakonie meistern, wie spannungsgeladen sie die spröden Gefühlskurven und scharfen Akzente ausleuchten, das beeindruckt bei der Aufnahme im Musica-viva-Konzert des Bayerischen Rundfunks in München. Und von dort sind gleich noch zwei andere diffizile Stücke Wolfgang Rihms zu hören. (BR Klassik)

(Foto: N/A)

In seinen späten, diesen düsteren, dann dramatisch ausbrechenden Kompositionen hat Frédéric Chopin die lyrische Elastizität und kantable Geschmeidigkeit seiner früheren Musik durchbrochen. Das kann man überspielen oder aber ausspielen. Ivo Pogorelich am Flügel verpasst vier existenziellen Chopin-Stücken eine schroffe, sogar erschütternde Dimension. Der als Extremist ausgewiesene Pianist, 1980 beim Warschauer Chopin-Concours als Verlierer sensationell zu Weltruhm gelangt, war immer ein Grenzgänger, der sich in den Konzertsälen rar macht. Doch welch ein wie besessen Bedeutung und Ausdruck erforschender Musiker er nach wie vor ist, zeigt die rigorose Auswahl tragisch angehauchter Chopin-Piecen. Der provokant gedehnte Nachdruck, mit dem er das c-Moll-Nocturne aus Opus 48 spielt, kann schon bestürzen, aber wie er das Pathos der folgenden Dur-Akkorde in einen panischen Heroismus hineinsteigert, entpuppt sich als grausige Gewalt. In der f-Moll-Fantasie will Pogorelich das Schreiten des Trauermarschs radikal ausbremsen, durch seinen in den Rissen und Schründen der Musik bohrenden Zugriff auch in den brutalen Absturzkaskaden. Betörend: die unerschütterlich lauernde Ruhe seiner kontrollierten Gestaltung. Im Drama der h-Moll-Sonate beeindrucken die Ecksätze, überwältigt jedoch die Mikroskopie des Largo-Satzes durch Pogorelichs im weit gespannten Klangbild traumtief verwurzelte Vorstellungskraft (Sony).

(Foto: N/A)

Johann Sebastian Bach hat zwar keine Klaviertrios geschrieben, wie später Joseph Haydn, doch der 1985 geborene britische Jazz-Musiker und Pianist Fred Thomas hat es sich in den Kopf gesetzt, eine lange Serie kurzer Choralbearbeitungen Bachs gemeinsam mit der Geigerin Aisha Orazbayeva und der Violoncellistin Lucy Railton für die transparente Trio-Formation neu und kühn aufzubauen. Obendrein vier Arien aus Kantaten als Klaviersoli. Bachs Musik, sagt Thomas, "bleibt sich selbst gleich, sie überwindet die Begrenzungen von Zeit und Ort, gar nicht zu reden von Instrumentierung oder Stimmung". Die Arienversionen am Klavier entfalten durch die instrumentale Einsilbigkeit der Gottesfurcht eine besondere Durchsicht, ja Wucht. "Wie furchtsam wankten meine Schritte" aus der Kantate "Allein zu dir, Herr Jesu Christ", BWV 33, ist wohl das sprechendste Beispiel eines mit Pizzicato-Tupfern erzeugten, geradezu tröstend unheimlichen Marschs. (ECM)

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