Süddeutsche Zeitung

"Märchen der Märchen" im Kino:Diskurs der Lust

Matteo Garrone hat die Sammlung des Märchenerzählers Giambattista Basile aus dem 17. Jahrhundert auf die Leinwand gebracht. Was er hier zeigt, geht in seiner Maßlosigkeit unter die Haut.

Von Fritz Göttler

Bei aller Weite der Landschaften, bei aller Geräumigkeit der Paläste - dies ist ein Film der Klaustrophobie. Des Eingeschlossenseins, der Ausweglosigkeit. Einmal hetzt die Königin von Longtrellis (Salma Hayek) ihrem Sohn hinterher durch die Gänge eines Labyrinths, und plötzlich steht sie irritiert im Zentrum, es geht nun nicht mehr weiter, aber der Sohn ist nicht da, er war heimlich mit seinem Kumpel über die Mauer geklettert und hatte den Gang gewechselt.

Die Ausweglosigkeit, von der dieser Film voll ist, haben die Menschen sich freilich selbst fabriziert, durch ihr maßloses Verlangen und Begehren und durch die gemeinen gesellschaftlichen Systeme, die sie sich ausdenken, um sie zu befriedigen.

Der Diskurs der Lust folgt in diesem Film willig der Vorlage, dem Pentameron des Giambattista Basile aus dem ersten Drittel des 17. Jahrhunderts, in dem die Überreste des Feudalismus noch einmal kräftig aufbegehren, aber seine Moral ist nachdrücklich von bürgerlichem Denken an geprägt.

In den Siebzigern ist Pasolini schon mal dieses Dilemma angegangen, als er mit seiner ganz eigenen archaisch-revolutionären 68er-Dynamik die Geschichten von Tausendundeine Nacht, des Dekameron und der Canterbury Tales gegeneinander ausspielte.

Auch Matteo Garrone ist ein Filmemacher, der alles gern auf den Kopf stellt. Nach dem Welterfolg "Gomorrha", nach dem Mafia-Enthüllungsbuch von Roberto Saviano, hat er dutzendweise Hollywood-Angebote gekriegt, aber keines davon hat ihm gepasst.

Royals, die den Mafiosi ziemlich eng verwandt sind

Dafür hat er nun "Märchen der Märchen", einen italienischen Film für die ganze Welt gedreht, für den er selbst die Finanzierung besorgte, an die zwölf Millionen Euro, mit Unterstützung des abenteuerlustigen Produzenten Jeremy Thomas, der Filme von Bertolucci produzierte, und von Gilliam, Linklater oder Cronenberg.

Gedreht wurde das "Märchen der Märchen" auf Englisch, mit Stars wie Salma Hayek, John C. Reilly, Toby Jones und Vincent Cassel. Der Reichtum und die Pracht, die diese als Royals hier entfalten dürfen, haben etwas zutiefst Spießiges und Verklemmtes. Die Könige Reilly und Jones sind Knuddelbären, Cassel ist ein langweiliger geiler Bock in präraffaelitischer Manier. Sie sind den Mafiosi in Garrones "Gomorrha" ziemlich eng verwandt.

Von Basiles Pentameron kommt die gesamte europäische Märchentradition her, bis zu den Brüdern Grimm. Diese Geschichten sind absolut modern, erklärt Garrone, es geht um Probleme, die ganz aktuell sind, blutige Schönheitsoperationen und Lifting.

Königin Hayek hockt am Tisch im Speisesaal und nagt an einem blutigen Klumpen, dem Herzen eines Seeungeheuers - so würde sie endlich schwanger werden, wurde ihr bedeutet, mit dem Kind, das sie so verzweifelt ersehnt. Ihr Mann hat, als er die Prophezeiung hörte, pflichtgemäß den Kampf mit dem Ungeheuer in den Tiefen des Meeres aufgenommen und ist dabei mit draufgegangen - eine grausame Parodie auf den Tod im Wochenbett.

Ein magischer Hauch von Shakespeare liegt über dem Film von Garrone - den Traum eines neapolitanischen Shakespeare hat Italo Calvino das Pentameron genannt - eines Shakespeare, wie ihn Orson Welles fürs Kino präsentiert hat, als er durch Europa vagabundierte auf der Suche nach Geld für eigene Projekte und Rollen für die Entfaltung seines schauspielerischen Genies.

Das Kino ist seit ein paar Jahren ziemlich scharf auf Märchen für die Leinwand, in allen möglichen Genres - es macht Hänsel und Gretel zu Hexen-Kopfgeldjägern oder verfilmt Stephen Sondheims legendäres Märchenmusical "Into the Woods" mit Meryl Streep.

Garrone liebt am Märchen gewissermaßen seine postmoderne Seite, sein Spiel mit Schein und Wirklichkeit - wie es unaufhörlich die Formen und Konturen infrage stellt. Wir haben ganz Italien nach Locations abgesucht, erzählt er, die aussahen, als wären sie studiogemacht. Und die Sets, die wir bauten, sollten so natürlich aussehen wie möglich.

Wir müssen den Ausweg suchen

Ein Labyrinth ist der ganze Film, er versucht, seinen Schrecken abzubauen. Wir müssen das Labyrinth angehen, sagt Calvino, auf die Literatur bezogen, wir müssen den Ausweg suchen, auch wenn wir ahnen, dass wir dort nur ein neues Labyrinth betreten werden.

Für ein paar Minuten nur gewinnt das "Märchen der Märchen" Freiheit, wirkliche Freiheit, die einen Atem holen und an eine Zukunft denken lässt. Einmal wird eine Königstochter gerettet, die vom Vater mit einem blöden Oger verkuppelt wurde und nun in einer Höhle im Berg hausen muss. Es ist ein halsbrecherischer Balanceakt einer Zirkustruppe, Mutter und Söhne, auf einem Hochseil zwischen zwei Felswänden. Hier ist die Gefahr als auch die Lust am größten.

Il racconto dei racconti, I/F/GB - Regie: Matteo Garrone. Buch: M. Garrone, Edoardo Albinati, Ugo Chiti, Massimo Gaudioso. Nach dem Pentameron des Giambattista Basile. Kamera: Peter Suschitzky. Schnitt: Marco Spoletini. Musik. Alexandre Desplat. Szenenbild: Dimitri Capuani. Mit: Salma Hayek, Vincent Cassel, John C. Reilly, Toby Jones, Shirley Henderson, Hayley Carmichael, Stacy Martin, Bebe Cave. Concorde, 125 Minuten.

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SZ vom 27.08.2015/pak
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