Italienische Literatur:Die Tweets der toten Tochter

Italienische Literatur: Nicola Lagioia: Eiskalter Süden. Roman. Aus dem Italienischen von Monika Lustig. Secession Verlag, Zürich 2016. 528 Seiten, 28 Euro. E-Book 21,99 Euro.

Nicola Lagioia: Eiskalter Süden. Roman. Aus dem Italienischen von Monika Lustig. Secession Verlag, Zürich 2016. 528 Seiten, 28 Euro. E-Book 21,99 Euro.

Hier wird dem Land der Väter der Kampf angesagt: Nicola Lagioias preisgekrönter Roman "Eiskalter Süden".

Von Maike Albath

Eine Schnellstraße zerschneidet die Landschaft. Brachen, Lagerhallen, ein paar Olivenbäume und Weinstöcke, vereinzelte Villen, eine Tankstelle mit einer gespenstischen Plastikpuppe auf dem Dach. In der Ferne ahnt man die Hochöfen von Tarent. Mit kühler Distanz tastet das Auge des Erzählers die Umgebung ab - um zwei Uhr früh, im Mondlicht, breitet sich ein Gefühl von Unwirklichkeit aus, so als habe sich alles Leben verflüchtigt. Und doch, es regt sich etwas: ein paar Eulen und dann Nachtfalter, die von den Schweinwerfern der Gärten in Schwärmen angezogen werden. Plötzlich taucht eine junge Frau auf. Ohne Kleider, barfuß, von blutigen Striemen bedeckt, geht sie mitten auf der Straße entlang. Eine Kanalratte huscht aus einer Sickergrube, als ein Lastwagen auf die schmale Gestalt zurast.

Mit diesen beklemmenden Bildern beginnt Nicola Lagioia, 1973 in Bari geboren, Schriftsteller und Journalist, Moderator einer renommierten Kultursendung und designierter Direktor der Turiner Buchmesse, seinen vierten Roman "Eiskalter Süden". Im vergangenen Jahr erhielt er dafür den wichtigsten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega. Das Elektrisierende des Anfangs hält über fünfhundert Seiten lang an. Der Tod der malträtierten Frau, die wenig später zerschmettert vor einem Parkhaus aufgefunden wird, bildet den Fluchtpunkt der Geschehnisse und wirkt wie eine Zündschnur. Hat Clara Salvemini, Tochter eines einflussreichen Bauunternehmers, sich umgebracht?

Ihr Tod ist ein Platzhalter in einem Gefüge, das nur ihr Halbbruder Michele dechiffrieren kann. Aber zuerst setzt sich ein Figurenkarussell in Bewegung, bei dem abwechselnd die Geschwister, der Lkw-Fahrer, die Eltern, Claras Witwer, der obduzierende Chirurg, Jugendfreunde, Geliebte, der Geometer des Vaters, ein investigativer Journalist, der Universitätspräsident und schließlich Michele selbst, als Literaturkritiker längst in Rom beheimatet, in den Vordergrund treten. Den Hintergrund der zersplitterten Handlung bildet die grell ausgeleuchtete Landschaft des Südens. Sie ist von Schwerindustrie und Bauspekulation gezeichnet und dennoch widerständig. Dazu passt die Allgegenwart der Tiere: Nachtfalter, Ameisen, Spinnen, Grillen, Wespen, Marienkäfer und Ratten bevölkern den Roman und entwickeln eine metaphorische Qualität. Ganz am Ende entdeckt Micheles Katze ihre Urinstinkte.

Auf den ersten Blick erzählt Nicola Lagioia eine Aufsteigergeschichte, gespickt mit Thrillerelementen, unterfüttert von einem Familienpsychogramm, Geschwisterliebe inklusive. Aber "Eiskalter Süden" macht eine noch viel brisantere Rechnung auf. Es geht darum, wie sich die Elterngeneration Italien unter den Nagel riss und eine Art Neo-Neofeudalismus etablierte. Der Gegenspieler Micheles, als uneheliches Kind der Underdog des Clans, ist sein Vater Vittorio Salvemini, Prototyp eines Emporkömmlings.

Der Patriarch kam in den Siebzigerjahren vom Land nach Bari, erstritt sich mit Zähigkeit, Fleiß und günstigen Preisen einen Platz unter den alteingesessenen Firmeninhabern, heiratete die richtige Frau, expandierte bis nach Spanien und China und plant jetzt eine Großbaustelle an der apulischen Küste. Dass dafür eigentlich Bodenproben und Schadstoffanalysen notwendig wären, weiß er zu vermeiden. Der Unternehmer braucht die neue Villenanlage, denn ihm steht das Wasser bis zum Hals. Es gibt eine untergründige Kraft, die Vittorio antreibt. Im Verismus, der italienischen Spielart des Naturalismus um 1880, hätte man von "la roba" gesprochen. Das Zeug, die Sachen, die Habseligkeiten, also das, was man besitzt. Der Sizilianer Giovanni Verga hat ganze Romane darüber verfasst; nichts ist seinen Bauern und Grundbesitzern wichtiger als "la roba". Dieser krude Materialismus kennzeichnet einen Teil Süditaliens bis in die Gegenwart hinein und befördert den Raubbau an der Natur, der das Land buchstäblich vergiftet.

Selbst die familiären Beziehungen werden nach ihrem Nutzen bemessen: Claras vermeintlicher Selbstmord wird zu einem Posten in Vittorios Kalkulation. Wie mit einem Röntgengerät durchleuchtet Lagioia das Geflecht aus Interessen, Abhängigkeiten und Gier und legt dabei Genealogien frei. Vittorios parasitäre Haltung setzt sich in seinem ältesten Sohn Ruggero fort, einem erfolgreichen Onkologen, der nur mit Prostituierten sein Gleichgewicht findet und auf das Erbe des Vaters spekuliert. Die jüngste Schwester Gioia, ein Produkt der Berlusconi-Ära, berechnend und verwöhnt, schlägt aus dem Tod der charismatischen Clara emotionalen Profit. Sie setzt munter Tweets im Namen der Älteren ab und erobert mit bestürzendem Machiavellismus ihren Platz in der Familie.

Mit der Präzision eines Insektenforschers nimmt sich Lagioia sein Land vor

Nicola Lagioia vertritt einen grellen Realismus, der in romanischen Literaturen seit einigen Jahren mit einer eigenen, auch ästhetischen Radikalität formuliert wird. Im Hintergrund wirkt immer noch die Tradition der Moralistik. Es gibt nicht nur ein starkes Bewusstsein für die Krise, sondern auch für deren Sprengkraft und den drohenden gesellschaftlichen Zerfall. Ähnlich wie der Turiner Davide Longo in seiner Parabel "Der aufrechte Mann" (2012) oder der Mailänder Vincenzo Latronico in seinem Generationenporträt "Die Verschwörung der Tauben" (2016) wagt Lagioia eine gleißende Bestandsaufnahme.

Darüber vergisst er keineswegs seinen Plot. "Eiskalter Süden" könnte packender kaum sein. Geschürt wird die Spannung auch durch die Form. Die Facettenaugen der Nachtfalter, die gleich zu Beginn auftauchen, nehmen das erzählerische Grundprinzip schon vorweg: Die Kette der Ereignisse wird in eine Fülle von Episoden zerteilt. Kurze, durch Absätze gegliederte Sequenzen prasseln auf den Leser ein, mit Perspektivverschiebungen und Wiederholungen von Schlüsselmomenten. Der Augenblick, in dem Clara die Straße betritt, die Nacht, in welcher der heranwachsende Michele die Familienvilla in Brand setzte, ein Weihnachtsfest, die Obduktion des Frauenkörpers - wieder und wieder werden diese Szenen aufgerollt, und jedes Mal verschiebt sich der Blickwinkel.

Die Sprache des formal versierten Autors passt zu seinem Sujet: Mal ist sie wuchernd expressionistisch, mal kristallin und abstrakt, die Dialoge sind knapp und zupackend. Manchmal freilich wirkt Lagioias Vorliebe für bildhafte Vergleiche etwas geschraubt: "Sakko und Hosen fielen wie ein Faksimile von Eleganz aus." Monika Lustig müht sich redlich, die stilistische Bandbreite des Originals zu erhalten, verstärkt das Preziöse eher und übersetzt häufig zu wörtlich. Gelegentlich mangelt es ein wenig an Sorgfalt. Vittorio wird "begleitet von Männern in spartanischer Anzahl", die "squadra di uomini ridotta all'essenziale" meint aber ganz einfach einen kleinen Trupp von Männern. Da ist von "Galerien" die Rede, die in Wohngebiete führen, aber "gallerie" sind Tunnel. Zigaretten haben ganz bestimmt keine "Ränder", ein italienischer "bastardo" ist kein "Bastard", eher ein "Arschloch", und Babytintenfische "vergehen" nicht auf der Zunge, sondern "zergehen".

Solche Kleinigkeiten aber ändern am Genuss der Lektüre wenig. Mit der Präzision eines Insektenforschers nimmt sich Nicola Lagioia in diesem so düsteren wie erhellenden Roman sein Land vor. Solange jemand vom eiskalten Süden so lebendig erzählt, bietet die Literatur einen Fluchtraum.

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