Italien und das Kruzifix-Urteil:Picknick auf dem Friedhof

In Italien herrscht eine archaisch anmutende Volksgläubigkeit. Kreuz und Kruzifix gehören zur Alltagskultur. Ob Glaube oder Kult, das Kreuz bleibt hängen.

Henning Klüver

Das Kreuz ist überall. Es hängt, ob als Kruzifix oder als schlichtes Symbol, in den meisten Klassenzimmern der staatlichen Schulen Italiens wie in vielen Warteräumen der öffentlichen Krankenhäuser - von den religiösen Einrichtungen ganz zu schweigen. Man findet es in Büros und auch in Hotels. Es ziert so manchen Wohnraum, und in ärmlichen Behausungen ist es nicht selten der einzige Wandschmuck. Städte wie Genua haben es als Wappen gewählt, Fußballklubs wie Inter Mailand als Emblem, Autohersteller wie Alfa Romeo als Markenzeichen. Hoch auf den Obelisken verkündet es den Triumph des Christentums über die Antike. Als Tatoo auf dem Oberarm bezeugt es die Identifikation wenn nicht mit einem Glauben, dann doch mit einer Kultur. Und an Halsketten hängend wird es von billigem Plastik bis zu teurem Edelstein nur als Schmuck verstanden.

Italien und das Kruzifix-Urteil: Das Kreuz - mal heiliges Symbol, mal nur Schmuck.

Das Kreuz - mal heiliges Symbol, mal nur Schmuck.

(Foto: Foto: dpa)

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach das obligatorische Anbringen von Kruzifixen in den Klassenzimmern staatlicher Schulen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoße, wird deshalb in weiten Teilen der italienischen Gesellschaft nicht verstanden. Zumal der moderne italienische Staat vor 150 Jahren gegen den Papst entstanden ist. Erst unter Mussolini wurde der Katholizismus zur Staatsreligion. Diesen Status verlor sie mit dem Konkordat von 1984 wieder.

Selbst Vertreter einer laizistischen Kultur, wie etwa Pier Luigi Bersani vom oppositionellen Partito Democratico, beklagen, dass mit dem Straßburger Urteil "der Gemeinsinn Opfer der Rechtsprechung" geworden sei. Souad Sbai zufolge, der Chefredakteurin der islamisch-italienischen Zeitschrift Al Maghrebiya (und Abgeordneten der Berlusconi-Partei PDL), gehört das Kreuz zur "Identität der Italiener". Die katholische Tageszeitung L'Avvenire zitiert als Zeugin die Schriftstellerin (und Kommunistin) Natalia Ginzburg, die 1988 einem Beitrag für die Unità geschrieben hatte, das Kruzifix sei ein "Zeichen des menschlichen Schmerzes".

Picknick auf dem Friedhof

Wie in kaum einem anderen europäischen Land leben in Italien archaisch anmutende Volksgläubigkeit und konsumorientiertes Singleverhalten nebeneinander. Das Kruzifix weist dabei weit über den ideologischen Zusammenhang der katholischen Kirche hinaus. Auch in Norditalien decken heute noch Familien, die vielleicht sonst nur noch zu Weihnachten in die Kirche gehen, zu Allerseelen vor dem Schlafengehen den Tisch mit Speisen für die verstorbenen Verwandten. Ganz zu schweigen vom volksfestartigen Charakter, den das Fest etwa in Palermo annimmt, wenn Familien mit Kind und Kegel auf den Friedhof ziehen, um dann ihren Toten den ganzen Tag mit Picknick und Ballspiel nahe zu sein.

Dennoch gibt es auch in Italien Gruppen, die mit dem Kruzifix - und dem, was es in ihren Augen symbolisiert - über Kreuz sind. Die Laizisten des Landes teilen sich dabei in zwei Gruppen: moderat die einen, die, zum großen Teil als gläubige Katholiken, die Trennung von Staat und Kirche fordern, radikaler die anderem, die sich einer grundsätzlich antiklerikalen Grundhaltung verpflichtet wissen. Das Kruzifix wie das Kreuzsymbol ist besonders bei diesem radikalen Flügel in die Kritik geraten.

Wobei es aber vor allem darum gehe, so etwa ein Sprecher der Lehrergesellschaft, dass die Bildungseinrichtungen in Italien zurzeit immer mehr unter konfessionellem Einfluss kämen. Polemisch werden etwa die Schulen aufgefordert, eine Nachbildung der antiken Bronzestatuen von Riace statt des leidenden Christus in die Klassenräume zu hängen. Ein Richter in Camerino (bei Macerata) weigerte sich derweil, in einer Aula Recht zu sprechen, in der ein Kruzifix hängt.

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