Italien:Rebellion der Hungrigen

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Das Piccolo Teatro in Mailand zeigt eine sehr selbstbewusste Neuinszenierung von Brechts "Dreigroschenoper", inszeniert von Damiano Michieletto.

Von Henning Klüver

Das Urteil ist gesprochen, gleich zu Anfang schon hat Mackie Messer die Schlinge um den Hals. Die Inszenierung der "Dreigroschenoper" am Mailänder Piccolo Teatro erzählt das Stück von seinem Ende her. Wie in einer Rückblende entwickelt sich dann die Geschichte bei einem Gerichtsprozess, den sich Regisseur Damiano Michieletto als erzählerischen Rahmen erdacht hat, in den die Szenen und Songs mit der Musik von Kurt Weill eingebettet sind. Ort der Handlung ist ein vergitterter Gerichtssaal. Verräterische Huren, korrupte Polizisten, verbrecherische Unternehmer sitzen, soweit sie nicht in die Handlung eingebunden sind, auf der Bank der Geschworenen. In einer Welt, die gut sein möchte, es aber nicht sein kann - denn "die Verhältnisse, sie sind nicht so" - gehen die Sphären der Justiz und des Verbrechens ineinander über.

Auf einer elektronischen Anzeige läuft der Countdown bis zur Hinrichtung

Das Thema "Korruption", das Italien ja nicht ganz fremd ist, steht für Michieletto im Mittelpunkt seiner Inszenierung. Und die von Peachum organisierten Hungrigen sind mit Schwimmwesten ausgestattet, was an die Flüchtlinge gemahnt, die übers Mittelmeer nach Europa drängen. In der alten "Beggar's Opera" von John Gay, aus der Brecht und seine Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann das Stück entwickelt hatten, ist die Handlung im 18. Jahrhundert angesiedelt. Brecht hatte sie bei der Berliner Uraufführung der "Dreigroschenoper" 1928 ins London des späten 19. Jahrhunderts verlegt. Jetzt sind wir in der Gegenwart angekommen.

Entsprechend sind die stilistischen Mittel. Comedy ersetzt zumindest strecken-weise expressionistisches Kabarett, auf einer elektronischen Anzeige läuft der Countdown zur Hinrichtung, und gelegentlich friert die Handlung ein, wie in einem Video, das still steht. Eigentlich fehlen nur noch Handys. Am Ende verzichtet der Regisseur auf den reitenden Boten, der die Nachricht von der Amnestie überbringt und Mackies Kopf rettet. Der Bote kommt zu Fuß mit einem Aktenkoffer voller Geld.

Ein Pferd gab es noch 1956 bei der ersten Aufführung der "Dreigroschenoper" am Piccolo Teatro durch den damals 35-jährigen Giorgio Strehler. Die Inszenierung hatte in der italienischen Szene die Wirkung eines Weckrufes. Strehler, der mit dem Impressario Paolo Grassi das Piccolo 1947 in einem kleinen ehemaligen Kino der Mailänder Innenstadt als "ein Theater der Kunst für alle" gegründet hatte, wollte das italienische Theater nach über zwanzig Jahren Faschismus erneuern. Er legte einerseits die verschüttete Tradition der Commedia dell'Arte etwa mit der Inszenierung Goldonis "Diener zweier Herren" frei und brachte andererseits die internationale Dramaturgie nach Italien - von Shakespeare über Gorki bis eben zu Brecht und einer ganz anderen Art Theater zu spielen.

Bertolt Brecht selbst kam im Februar 1956 nach Mailand, um einigen Proben und einer Aufführung der "Opera da tre soldi" beizuwohnen. Er war von Strehlers Arbeit so begeistert, dass er einen kurzen Brief schrieb: "Lieber Strehler, ich wollte, ich könnte Ihnen in Europa alle meine Stücke überlassen, eines nach dem anderen." Für Strehler und Grassi war das eine Art Freibrief, sich die Exklusivität an den Werken Brechts in Italien zu sichern. Strehler brachte in den folgenden 20 Jahren eine ganze Reihe von Brecht-Stücken am Piccolo heraus. Darunter 1973 eine zweite Fassung der "Dreigroschenoper", die ganz auf die Wirkung der Songs ausgerichtet war und bei der die rothaarige Milva in der Rolle als Jenny Furore machte. In jenen Jahren kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit dem Suhrkamp Verlag, der aus den Zeilen Brechts nicht den Exklusivanspruch herauslesen wollte, wie ihn Strehler und Grassi für sich reklamierten.

Inzwischen ist Gras über die Sache gewachsen. Brecht wird im ganzen Land gespielt, gerade konnte man im Mailänder Teatro L'Elfo Puccini eine mitreißende Inszenierung des "Puntila" erleben. Aber die neue, die dritte Version der "Dreigroschenoper", die am Piccolo noch bis zum 11. Juni zu sehen ist, steht wieder einmal an einem Wendepunkt in der Entwicklung des Theaters. In der Nachfolge von Strehler (gestorben 1997) und Luca Ronconi (2015) verantwortet jetzt Stefano Massini als künstlerischer Berater das Programm zusammen mit Intendant Sergio Escobar (seit 1998 am Piccolo). Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bühne, dass ein Dramaturg und kein Regisseur diese Rolle übernommen hat.

Nach Jahren des Experiments werden auf den Bühnen des Landes wieder mehr Geschichten erzählt

Massini ist Autor von "Lehman Trilogy", der letzten Regiearbeit von Ronconi. In dieser Spielzeit zeigte das Piccolo auch eine Inszenierung seines Stückes "Sette minuti" ("Sieben Minuten") über einen Gewerkschaftskampf. Die Arbeiten des 40-jährigen Dramaturgen sind Ausdruck eines Generationswechsels und einer neuen Tendenz: Die Rückkehr zum Wort. Jahrzehntelang spielte auf den Bühnen des Landes ein eher dem Körper und dem Experiment verpflichtetes Theater die Hauptrolle. Jetzt werden wieder mehr Geschichten erzählt.

Das Piccolo hat sich aus kleinen Anfängen zum größten und wichtigsten italienischen Theaterbetrieb entwickelt, mit drei Bühnen, 300 000 Zuschauern in der vergangenen Spielzeit und einem Jahresetat von 19,7 Millionen Euro. So wie Strehler und Grassi hier nur noch Geschichte sind, zeigt sich der mit Massini gleichaltrige Damiano Michieletto unbeeindruckt von der Erinnerung an die "Dreigroschenoper" vor 60 Jahren. Weil er die von Strehler bearbeitete Übersetzung des Stückes für unzeitgemäß hielt, hat er es von Roberto Menin neu ins Italienische übertragen lassen. Die Übersetzung der Songs nahm er sogar selbst vor. Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral? Angesichts globaler Armut lautet jetzt die Sentenz: "Wenn der Mensch hungert, dann rebelliert er."

© SZ vom 09.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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