Italien:Öko in Apulien, In-vitro in Kiew

Italien: Paolo Giordano: Den Himmel stürmen. Roman. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Rowohlt, Hamburg 2018, 528 Seiten, 22 Euro.

Paolo Giordano: Den Himmel stürmen. Roman. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Rowohlt, Hamburg 2018, 528 Seiten, 22 Euro.

Der Zynismus der Gegenwart: Paolo Giordano stürzt sich in "Den Himmel stürmen" in eine Fülle von Bezügen.

Von Maike Albath

Paolo Giordano hatte zweifellos die besten Absichten. Er wollte ein ehrliches Buch schreiben und den Zynismus der Gegenwart anprangern. Er wollte die perfiden Mechanismen der Globalisierung aufdecken und das ausbeuterische Verhältnis des Menschen zur Natur beklagen. Und schließlich ging es dem 1982 in Turin geborenen Schriftsteller und promovierten Physiker, der mit "Die Einsamkeit der Primzahlen" (2009) über wohlstandsverwahrloste Jugendliche einen internationalen Bestseller landete, um die Verlorenheit seiner Generation. So ehrenwert und sympathisch sein Ansatz ist und so ernsthaft er sich mit den großen Fragen unserer Zeit auseinandersetzt - das Ergebnis ist ein vollkommen verquaster Roman.

Naturmystik, Gruppensex, ein biblischer Brudermord, Giordano spart an nichts

Natürlich ist es eine Liebesgeschichte, die als innerer Motor von "Den Himmel stürmen" herhalten muss und die Figuren und Zeitebenen miteinander verklammert. Der pathoslastige Titel knüpft an einen Begriff von Max Stirner an und scheint Menetekel und Zielpunkt zugleich. Die Geschehnisse werden aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Teresa aufgefädelt und reichen von den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis in die nahe Gegenwart. Die Turiner Ingenieurstochter kehrt in den Ferien nach Apulien in das Haus ihrer Großmutter zurück und freundet sich mit drei Jungen auf einem nahegelegenen Selbstversorger-Hof an. Der Anführer ist der hochbegabte Bern. Dessen Onkel Cesare, ein Charismatiker, erzieht seinen Neffen, seinen eigenen Sohn Nicola und das Heimkind Tommaso ausschließlich auf der Grundlage der Bibel. Zwar rebelliert Bern nach einigen Jahren gegen die eingeschworene Gemeinschaft, aber ein religiöser Schöpfungsbegriff treibt ihn weiterhin um. Die Wahlfamilie zerbricht, Teresa bekommt Konkurrenz, später bilden Teresa, Bern, Tommaso und weitere Freunde eine Landkommune. Teresa kann nicht schwanger werden, und bleibt allein auf dem Hof zurück. Bern reagiert auf die verpatzte Vaterschaft mit militantem Umweltschutz, steigert sich in tiefen Hass auf seinen Beinahe-Bruder Nicola hinein, begeht offenkundig ein Verbrechen und flüchtet auf seiner Suche nach unberührter Natur bis in eine isländische Höhle, der er nicht mehr entkommt.

Naturmystik, Gruppensex, Selbstmord einer Schwangeren, künstliche Befruchtung plus Eizellenspende in der Ukraine, Alkoholsucht, Vater-Tochter-Versöhnung, ein biblischer Brudermord und schließlich ein halber Märtyrertod - Giordano spart an nichts. Wie in allen seinen Büchern interessiert er sich für Gruppendynamik und die Verkapselungen von frühen seelischen Verletzungen.

Aber dieses Mal hat er es mit allem übertrieben. Nicht nur der hochtourige Gang der Ereignisse, der nietzscheanische Gestus der männlichen Hauptfigur und die überladene Symbolik verstören, auch die Konstruktion des Romans hakt. Etliche Geschehnisse werden Teresa, die ohnehin eher blass bleibt, weitschweifig von anderen berichtet, was die Handlung stocken lässt. Die perspektivische Gestaltung ist wenig überzeugend.

Giordano arbeitet eine Fülle von Bezügen ein, lässt Bern Italo Calvinos "Baron auf den Bäumen" nacheifern, nutzt Max Stirners Studie "Der Einzige und sein Eigentum" als Folie und zitiert immer wieder die Bibel. Auch Donna Tartts "Distelfink" schwingt mit, denn ein bisschen amerikanischer Mainstream kann nie schaden. Nur bringt dieser Referenzrahmen nichts.

Wirklich bizarr ist schließlich, wie der Autor mit der Figur des manipulativen Ziehvaters Cesare umgeht. Dieser Mann wird zu Beginn von "Den Himmel stürmen" als Fanatiker mit fragwürdigen sexuellen Neigungen gekennzeichnet - und am Ende wirkt er wie der Inbegriff von Güte. Es hat den Anschein, als sei der Verfasser gemeinsam mit der eizellenlosen Teresa einem versöhnlichen Pantheismus erlegen, der alles übertüncht. Vor beinahe 30 Jahren hatte der Mailänder Andrea De Carlo mit "Zwei von zwei" (1989) eine vergleichbare Geschichte von alternativen Lebensentwürfen und Ernüchterung erzählt, die in ihrer leichtgängigen Erzählweise stimmiger war. Giordano strebt einen großen Gesellschaftsroman an, doch es gebricht ihm an literarischen Mitteln. Nach dem aufgerauten Realismus in seinem geglückten Afghanistan-Roman "Der menschliche Körper" (2013) und der fein ziselierten Novelle "Schwarz und Silber" (2015) hätte man sich mehr erwartet. Am Ende wird Teresa übrigens doch noch schwanger; Berns tiefgefrorenem Sperma in Kiew sei Dank. So viel Künstlichkeit im wahren Leben muss erlaubt sein.

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