Italien: Der Staat der Kirche:Vornehm unzufrieden

Schwulenehe, Abtreibungsrecht und der souveräne Papst: Der Vatikan zieht es vor, die Gesetze Italiens künftig zu ignorieren.

Gustav Seibt

Zu den wenig bekannten und verstandenen Tragödien der italienischen Geschichte gehört die Tatsache, dass der moderne italienische Nationalstaat gegen die katholische Kirche gegründet werden musste. Wollte man Italien einen, musste der Kirchenstaat verschwinden. Aber dieser Staat stellte die materielle Basis der übernationalen, allen Völkern dieser Erde verpflichteten Institution des Papsttums dar - einer Errungenschaft des westlichen Christentums, wie sie keine andere Konfession kennt und die den Eckstein jener Trennung von Staaten und Kirchen darstellt, auf der die europäische Freiheitsgeschichte nicht zum geringsten beruht. Die Kurie nationalisieren, das war immer undenkbar. Aber Italien ohne Rom, das war ebenso unvorstellbar.

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Kleiner Staat, großer Einfluss: Papst Benedict XVI. will den Vatikan nicht länger unter italienischer Gesetzgebung wissen.

(Foto: Foto: dpa)

Aus diesem Dilemma folgte ein Kalter Krieg, der 59 Jahre dauerte: von 1870, als das Königreich Italien Rom eroberte, bis 1929, als es sich unter der Führung des kirchenfeindlichen Diktators Benito Mussolini mit der Kirche in den Lateranverträgen versöhnte.

Der liberale Nationalstaat hatte zwei Generationen lang ohne Beteiligung seiner katholischen Bürger leben müssen, und das wurde zu einer wesentlichen Vorbedingung seines Scheiterns. Nie hätte die vergleichsweise kleine faschistische Bewegung sich des großen Landes so mühelos bemächtigen können, wenn ihr eine kraftvolle katholische Partei, dem deutschen Zentrum vergleichbar, also eine Vorläuferin der "Democrazia Italiana", hätte Widerstand leisten können.

So stand die Versöhnung 1929 von Anfang an unter einem Unstern. Sie war unvermeidbar geworden, ihre Grundlinien lagen längst zu Tage, aber der Verhandlungspartner war ausgerechnet ein Italiener, den man noch nie kniend auf einer Kirchenbank gesehen hatte. Die Vereinbarungen waren dementsprechend nüchtern: Man tauschte wechselseitige Garantien aus. Die Kurie erkannte den italienischen Staat an, vor allem aber Rom als dessen Kapitale. Feierlich erklärte sie die Römische Frage für beendet. Das Königreich Italien garantierte im Gegenzug den Vatikan als souveränen Staat mit allen Insignien eines solchen: eigene Diplomatie, Sicherheitskräfte, Post, Grenzen, Gesetze. Damals wurde auch der alte Verfassungsartikel, der die katholische Konfession zur Staatsreligion erklärt hatte, mit neuem Leben erfüllt: Kirchliche Trauungen wurden zivilrechtlich anerkannt, und die Kirche durfte Religionsunterricht an staatlichen Schulen erteilen.

Unbesiegbar

Diese feierlichen Symbolismen wurden von kleinteiligen praktischen Regelungen begleitet: Italien übernahm die Wasserversorgung des Zwergkirchenstaates, das Polizeiregime auf dem Petersplatz, den vatikanischen Bahnanschluss, die Weiterbeförderung der Post, der Papst stand unter dem Schutz der Gesetze gegen Majestätsbeleidigung und vieles mehr, was zum Überleben eines Staatsgebildes von wenigen Quadratkilometern und ein paar hundert Einwohnern gehört.

Nicht zuletzt beteiligte sich Italien maßvoll an der Finanzierung des Kirchenstaates (der andere wichtige Geldgeber ist die vergleichsweise blendend ausgestattete katholische Kirche Deutschlands). Materiell blieb die Überlegenheit Italiens erdrückend - was im Zweiten Weltkrieg seine unheilvolle Rolle spielte, als die Deutschen sich Roms bemächtigt hatten -, aber das änderte nichts daran, dass die spirituellen Kräfte des Papstes in aller Welt ihn zu Friedenszeiten bei jedem ernsthaften Konflikt unbesiegbar gemacht hätten.

Der Einfachheit halber übernahm der Vatikan die italienische Gesetzgebung, und konnte sich ihrer nach Bedarf - nicht zuletzt beim Fehlen eigener Regelungen - bedienen. Das meiste davon war auch gar nicht einschlägig - ein Seerecht benötigte der Vatikan ebenso wenig wie die allgemeine Wehrpflicht.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, was Vatikan bewogen haben könnte.

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