Süddeutsche Zeitung

"Economia sentimentale":Vom Untergang Italiens

Der Schriftsteller Edoardo Nesi erzählt in seinem neuesten Buch von den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Wirtschaftsleben. Er zeichnet das Bild eines langen, langsamen Niedergangs.

Von Thomas Steinfeld

Am 21. März trat Giuseppe Conte, der Ministerpräsident Italiens, vor die Fernsehkameras und erklärte, man werde einen großen Teil der wirtschaftlichen Aktivitäten im Land aussetzen. In Betrieb bleibe nur, was "unmittelbar notwendig, wesentlich, unverzichtbar" sei. Die Nachricht, berichtet der Schriftsteller Edoardo Nesi in einem jüngst erschienenen Buch, dem er den Titel "Economia sentimentale" (La Nave di Teseo, November 2020) gab, habe ihn damals so erschüttert, weil sie ihm so ganz und gar nicht italienisch vorgekommen sei.

"Wie soll man ohne das Nicht-Notwendige, das Nicht-Wesentliche und das Nicht-Unverzichtbare leben?", fragt er. Habe nicht gerade ein Sinn für die Verfeinerung und das Überflüssige Italien zum Land des guten Stils und des Geschmacks werden lassen, zu der Weltgegend, in der es sich am besten leben lasse? Nie zuvor sei das Unverzichtbare vom Wesentlichen getrennt worden, aus gutem Grund. Sechs Wochen lang galt dieser Beschluss. Wenn Edoardo Nesi die Geschichte Italiens während der folgenden sechs Monate erzählt, lässt er keinen Zweifel daran, dass er mit der Entscheidung einen langen, langsamen Niedergang besiegelt sieht.

Edoardo Nesi ist ein Fachmann für Verluste, vor allem im Hinblick auf Italien. Berühmt wurde er mit der "Storia della mia gente" ("Die Geschichte meiner Leute"), für die er 2011 den Premio Strega bekam, die höchste Auszeichnung für ein belletristisches Werk in Italien. In diesem Buch, einer Art literarischer Chronik, erzählt er von Prato, dem Zentrum der italienischen Textilindustrie, dem Ort, an dem seine Familie seit Generationen zu Hause war und wo er selbst lebt. Wohlhabend wurden seine "Leute" nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer kleinen Fabrik, in der die Stoffe hergestellt wurden, aus denen dann zum Beispiel das Kaufhaus Frey in München Lodenmäntel schneidern ließ.

Edoardo Nesi erbte die Fabrik, musste sie aber im Jahr 2004 verkaufen, weil das Unternehmen, wie manch anderer Textilhersteller in der Toskana, der asiatischen Konkurrenz nicht standhalten konnte: weder der Konkurrenz aus den Fabriken in China oder Vietnam, noch der Konkurrenz aus den Fabriken in Prato, die von chinesischen Unternehmern aufgekauft wurden und in denen Einwanderer aus China arbeiten. Das Buch war auch eine Erinnerung daran, dass es bei einer solchen Industrie um viel mehr geht als um ein Produkt und einen Preis: um eine Tradition, um handwerkliches Können, um eine Lebensart, um bürgerlichen Stolz.

Die Winzer wissen nicht mehr, wie sie den Wein lagern sollen, weil die Kunden fehlen

Von der Fabrik "Lanificio T. O. Nesi & Figli S.p.A." wird auch im jüngsten Buch Edoardo Nesis erzählt. Aber das Werk ginge nicht mehr als schöne Literatur durch. Eher ist die "Economia sentimentale" eine Recherche zur Frage, was aus dem Land werden wird, jetzt, da sich auch angesichts jener Trennung des unmittelbar Notwendigen vom Nicht-Wesentlichen allmählich absehen lässt, wie sich die Dinge weiter entwickeln werden. Edoardo Nesi besucht eine Weinhändlerin, die ihm berichtet, dass die Winzer, weil ihnen die Kunden in den Restaurants fehlen, nicht mehr wissen, wie sie ihren Wein lagern sollen. Trotzdem ernten sie.

Er spricht mit seinem Schlachter, der mehr verkauft als je, weil die Menschen den Supermarkt scheuen. Er hört sich bei einem ehemaligen Konkurrenten um, der mit seinem Unternehmen überlebt, weil er seine Produktionstechnik an die Standards der asiatischen Wettbewerber anpasste und zum Beispiel die Kette "Zara" beliefert.

Er befragt einen Investor, der ihm erläutert, dass in der näheren Zukunft die Büroarbeit verschwinden werde, jedenfalls in der zentralisierten Form, in der man sie kannte, woraufhin sich ein Heer von Arbeitslosen bilden dürfte: "Wir werden aber nicht als Hirten enden, die ihre Schafe unter den Ruinen des römischen Reiches weiden." Dafür, so hofft der Investor, würden Deutschland und Frankreich schon sorgen.

"Sentimental" heißt die Wirtschaftslehre Edoardo Nesis, weil er sich vorstellt, dass sein ehemaliges Gewerbe, das Weben feiner Stoffe, eine Zukunft nur im äußersten Luxus hat: für Kunden, denen der Preis gleichgültig ist. Dass dieser Luxus ausschließlich in Italien und nicht auch in China hergestellt werden kann, mag indessen ein Fehler in der italienischen Wahrnehmung sein. "Sentimental" heißt sie ferner, weil erkennbar wird, dass das Rückgrat der italienischen Wirtschaft, das Ineinander von Handwerk, Landwirtschaft, Kleinindustrie und Tourismus, in hohem Grad gefährdet ist und ein einziger Bruch in den Lieferketten ausreicht, um das Gewebe reißen zu lassen.

"Sentimental" heißt die Lehre vor allem, weil sich Edoardo Nesi von Enrico Giovannini, einem in Italien prominenten Statistiker, der unter der kurzlebigen Regierung Enrico Lettas (April 2013 bis Februar 2014) Arbeitsminister gewesen war, darüber aufklären lassen will, dass Italiens Zukunft nur in einer radikalen ökonomischen Wende liegen könne. Es müsse alles neu gemacht werden, mit den Mitteln aus dem Europäischen Aufbauplan: nachhaltig, bodennah, aber auf dem höchsten Stand von Wissenschaft und Technik.

Auch die Sentimentalität ist ein Gut, das man sich leisten können muss

Großes Vertrauen in eine solche Erlösungsfantasie hat Edoardo Nesi, der Bewunderung für den Fachmann zum Trotz, jedoch offenbar nicht: Seine "Ökonomie" wird nicht programmatisch, sondern bleibt sentimental. Darin folgt ihm ein großes Publikum, das, ebenso wie der Autor, sehr wohl wahrzunehmen scheint, dass auch die Sentimentalität ein Gut ist, das man sich leisten können muss und das also gefährdet ist.

Das schmale Buch geht schon dem Ende zu, als Edoardo Nesi seinen Sohn vom Florentiner Flughafen abholt. Auf der Heimfahrt finden die beiden im Absingen eines alten Liedes von Bruce Springsteen zueinander: "I wanna live beneath peaceful skies / In my lover's bed, / With a wide open country in my eyes, / And these romantic dreams in my head" - "ich möchte unter friedvollen Himmeln leben / Im Bett meiner Liebsten, / Mit einem offenen Land vor Augen / Und diesen romantischen Träumen in meinem Kopf". Ein amerikanisches Versprechen vom gelobten Land und eine sehr italienische Vorstellung von "bellezza" schießen in diesem Augenblick zusammen, in der Idee von einem plötzlichen Einbruch des Schönen, wider alles Suchen.

Amerikanisch ist schließlich auch das Ende des Buches: der Blick von der Terrasse des Schriftstellers auf das Tal von Prato, während die untergehende Sonne die Dächer der Fabrikhallen in einer Weise aufleuchten lässt, dass man sie für die Dächer von Los Angeles halten könnte. Offenbar möchte man sich seine Kolonisatoren aussuchen können. Unentrinnbar scheinen sie in jedem Fall zu sein.

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