Süddeutsche Zeitung

Istanbul:Schallwellen bis in die Tiefen des Bosporus

In Istanbul hat das 25. Jazzfestival begonnen. Seine Botschaft: Wir lassen uns von der Politik nicht aufhalten.

Von Christiane Schlötzer

Unter dem Bosporus gibt es jetzt einen Autotunnel, wer diesen profanen Weg zwischen Europa und Asien nimmt, verzichtet auf die Poesie der Schiffspassage und denkt am besten nicht lange darüber nach, dass es auf der Welt keine Unterwasserröhre gibt, die so viel Wasserdruck aushalten muss, 100 Meter unter der Meeresoberfläche. Der Eurasien-Tunnel ist eines von Recep Tayyip Erdoğans "Megaprojekten". Istanbul ist in diesen Tagen voll mit Erdoğan, immer nur sein Kopf, auf Tausenden Großplakaten, mit denen sich der Präsident für seine Wiederwahl bedankt. Sie waren schon überall, als sich die Istanbuler noch den Schlaf der Wahlnacht aus den Augen rieben und die Opposition darüber stritt, ob man "jemandem, der nicht an die Demokratie glaubt", überhaupt zum Wahlsieg gratulieren soll.

Es gibt Menschen, die sich von solchen Fragen nicht aufhalten lassen. Sie finden, dass die Türkei lange genug im Dunkeln gelebt hat und es Zeit ist, den Tunnel zu verlassen. Am vergangenen Dienstag, nur zwei Tage nach der Präsidenten- und Parlamentswahl, wurde das 25. Istanbuler Jazz-festival eröffnet, und zwar im größten Konzertsaal der Stadt, der zum Zorlu Center gehört, einem privaten Kulturkomplex mit mehreren Bühnen. Das Festival wird ebenfalls privat finanziert, von einer mäzenatischen Institution, der Istanbuler Stiftung für Kultur und Kunst (IKSV).

Auf der Bühne des vollbesetzten Saals, der so viele Plätze hat wie die Münchner Philharmonie: die Größen der türkischen Jazz-Szene, einschließlich fast aller noch lebenden Urväter und Mütter. Einige um die 80 Jahre alt, wie der fabelhafte Perkussionist und Instrumentenerfinder Okay Temiz, der nach einer Weltkarriere wieder in der Türkei lebt. Oder Tuna Ötenel, einst ein gefeierter Jazz-Pianist, der bewies, dass er seine Kompositionen auch einhändig auf dem Flügelhorn spielen kann, seit ein Schlaganfall die andere Hand lähmt. Die musikalisch mitreißend vorgetragene Botschaft: Wir lassen uns nicht aufhalten.

Den furiosen Abschluss des Abends setzte die TRT-Bigband. TRT ist der staatliche Rundfunksender, dessen politisches Programm unter haarfeiner Kontrolle steht. Die Bläser spielten George Gershwin und Irving Berlin mit so viel Temperament, dass die Schallwellen gewiss die Tiefen des Bosporus erreichten. Die Türkei ist, daran ließ ausgerechnet das TRT-Orchester keinen Zweifel, genauso viel Westen wie Osten.

Die erste Musikschule der Stadt soll ihr Gebäude räumen. Die Regierung will offenbar den Bau

Viele türkische Jazz-, Pop- und Rockmusiker haben eine klassische Ausbildung an einem der Konservatorien in Istanbul oder Ankara erhalten. Die Musikausbildung in der bisherigen Qualität aber scheint keineswegs gesichert. Ausgerechnet am Tag der Eröffnung des Festivals sollte das Konservatorium der renommierten staatlichen Mimar-Sinan-Universität in Istanbul sein Gebäude räumen. Es wurde mit polizeilicher Evakuierung "ab 13.30 Uhr" gedroht, sollten Dozenten und Studenten nicht "freiwillig" ausziehen, mit Sack und Pack. Verrückt? Nein, türkischer bürokratischer Wahnsinn. Die Behörden in Ankara sagen, sie hätten den Rektor lange vorher informiert. Der entgegnet: Aber ohne ein Ersatzgebäude anzubieten. Als erste Musikschule Istanbuls wurde die Einrichtung 1914 geschaffen, im Osmanischen Reich.

Wenige Tage vor dem verordneten Auszug machte die Universitätsleitung ihre Not öffentlich. Es folgte eine Welle des Protests, in einigen Medien hieß es zudem, das historische Gebäude sollte künftig als Teil der Repräsentanz des Staatspräsidenten im nahen Dolmabahçe-Palast dienen. Musikprofessoren sprachen von "Kunstfeindschaft" und einem "unwürdigen Vorgang". Zwei Tage vor den Wahlen gab Ankara nach. Das Büro des Parlamentspräsidenten teilte mit, die Räumung würde vorerst ausgesetzt, "weil die Prüfungen noch nicht abgeschlossen seien".

Ende offen. Für das Jazzfestival, das die Grenzen in 25 Jahren musikalisch stets weit steckte, gibt es nur sehr wenig Geld vom Staat, die Organisatoren suchten Sponsoren. Pelin Opcin, die Festivalchefin, sagte schon bei der Programmvorstellung im April: "Ohne die bereichernde Liebe der Künstler zu uns" sei das Festival gar nicht zu stemmen. In diesem Jahr war es besonders schwierig, weil die Türkische Lira so tief gefallen ist. Anfang 2017 musste man für einen Euro gut drei Lira zahlen, jetzt sind es mehr als fünf. Und es gab bei manchen Künstlern ja noch dazu Ängste, in die Türkei zu reisen. Nun aber kommen bis zum Ende des Festivals am 17. Juli auch Nick Cave, Benjamin Clementine, Fred Hersch und Robert Plant.

Die Stiftung hat zudem zwei Dutzend Musikmanager aus der halben Welt eingeladen, aus Israel, Japan, Kanada, damit sie türkische Bands entdecken, auf großen und kleinen Bühnen. Zum Beispiel bei einem Rundgang durch Kadiköy, einen für seine Liberalität bekannten Bezirk auf der asiatischen Seite Istanbuls. Der Tourbus passiert auf dem Weg dorthin den eurasischen Tunnel. Vor der Einfahrt möchte eine Frau aus London am liebsten aussteigen, sie traut Erdoğans Bauwerken nicht. Die Frau ist Türkin, lebt aber schon lange im Ausland. Auch der Musikwissenschaftler Sami Sadak ist Türke, lehrt und lebt jedoch seit Jahrzehnten in Frankreich, er sucht auf der Tour Bands für sein Festival in Aix-en-Provence. Sadak, aufgewachsen in einer jüdischen Familie in Istanbul, in der man Ladino, ein altes Spanisch, Griechisch und Türkisch sprach, schwärmt vom "musikalischen Reichtum" Istanbuls, und nach dem Rundgang von den Veranstaltungsorten: ein zur Bühne umgebautes osmanisches Bootshaus, Clubs, Bars, ein plüschiges Theater. Alles privat, kein Staat weit und breit.

Die Konzerte sind voll, das Publikum ist jung. Neue Künstler werden ebenso gefeiert wie die Veteranen der Szene, die ihren anatolischen Rock in die Nacht hämmern. Als wollte Istanbul einfach keine Ruhe geben, weiterleben, auch wenn keiner weiß, wie es weitergeht mit der Politik.

"Je dunkler die Zeiten sind, desto mehr umarmen wir uns. Das ist unser Spirit."

"Wir waren zuletzt hier sehr isoliert, viele Ausländer wollten nicht mehr kommen, es war düster", sagt Filiz Ova, die bis vor Kurzem das Kulturprogramm einer großen Bank in der Stadt verantwortet hat. "Aber dann haben wir uns auf uns selbst besonnen, haben türkische Künstler gesucht und gefördert", sagt Ova. Jetzt gibt es wieder so etwas wie eine lebendige Untergrundszene. Ağaçkakan (Der Specht) ist ein wütender Rapper, seine Texte sind politisch und poetisch. Er bekam einen Auftritt im "Studio" des Zorlu Centers. Weil er auf Türkisch singt, ist Der Specht aber wohl nicht exportfähig, auch wenn das Wort "Paranoia" (Türkisch: Paranoya), das Ağaçkakan so gern benutzt, keine Übersetzung braucht.

Der Ausnahmezustand gilt nun seit zwei Jahren, er soll bald zu Ende gehen, das hat vor der Wahl sogar Erdoğan versprochen. Aber was passiert dann mit den freiheitsbeschränkenden Dekreten, die während des Notstands beschlossen wurden, was geschieht mit den Menschen, die noch in den Gefängnissen sitzen? Wie der Kulturmäzen Osman Kavala, seit Oktober 2017, ohne Anklage. Niemand weiß das.

Nur eines scheint gewiss zu sein, Istanbul will nicht länger in einem Tunnel leben. Eine der Macherinnen des Jazzfestivals sagt: "Je dunkler die Zeiten sind, desto mehr umarmen wir uns. Das ist unser Spirit."

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Quelle:
SZ vom 02.07.2018
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