Süddeutsche Zeitung

Istanbul in weiß:"Schnee, welch wunderschöner, flüchtiger Trost"

Mit dem Schnee erwacht die Poesie, die selbst die Schrecken der Bombenanschläge in Istanbul vergessen lässt, die politischen Sorgen und die Beschränkungen unserer Demokratie.

Gastbeitrag von Orhan Pamuk

Wenn in den Wintern meiner Kindheit viel Schnee fiel, war das immer eine Freude. Hauptsächlich, weil es dem drögen, schweren, repressiven Schulalltag etwas entgegensetzte. Schnee bedeutete, den Hausaufgaben, Pflichten und freudlosen Quälereien des Schülerlebens zu entkommen. Er war eine Entschuldigung dafür, die Arbeit ruhen zu lassen, die man nicht tun wollte, und dem Leben zu entfliehen, das man nicht leben wollte.

So lässt sich vielleicht erklären, warum ich wehmütig wurde, als es in dieser Woche in Istanbul schneite. Mich und jeden hier ließ der Schnee die Schrecken der Bombenanschläge vergessen, die politischen Sorgen und Repressionen, die Beschränkungen unserer Demokratie und Redefreiheit. Schnee, welch wunderschöner, flüchtiger Trost.

Seit vielen Jahren fotografiere ich Istanbul im Schnee. Als meine Bücher anfingen, im Ausland zu erscheinen, fragte mich ein amerikanischer Rezensent, ob es in meiner Stadt eigentlich häufig schneie. Oder hatte ich den Schnee einfach so gern? Das Autorenfoto für meine Bücher inszenierte ich vor verschneiter Kulisse.

Meine ersten eigenen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Istanbul im Schnee entstanden, als ich fünfzehn Jahre alt war. In dieser Zeit gab es noch keine Touristen. Als in dieser Woche so viel Schnee fiel, fehlten sie ebenfalls. So leer, wie die Straßen einst gewesen waren, sahen sie jetzt wieder aus.

Schnee ruft in mir das Bild des alten Istanbul wach, das mir so provinziell vorkam. Seit zehn Jahren ziehe ich mit meiner Kamera los, wenn es schneit. Mit Schnee verbinde ich zuallererst die durch ihn hervorgerufene mittelalterliche Stille. Sie macht mich so froh wie den Protagonisten Ka in meinem Roman "Schnee".

Wenn es schneit in Istanbul, verstummen das furchtbare Weiße Rauschen und auch der Verkehrslärm. Die Schritte der Nachbarn werden hörbar. Schiffshörner unterscheiden sich vom Klang der Vögel und des Windes.

Man erkennt jetzt auch die anderen Vorzüge der Dinge, die Poesie in den Gassen, den Wert des menschlichen Lebens, und beginnt, poetische Fragen zu stellen. Ist dieses Maß an Brutalität nötig? Müssen wir in den Großstädten mit solch grässlichem Verkehr leben? Brauchen wir den Schnee, um die Besonderheiten unserer Mitmenschen und all der Dinge um uns herum wahrzunehmen und uns an ihnen zu erfreuen?

Das Wesen Istanbuls wird durch den Schnee übersteigert. Er deckt den Schmutz zu, den Beton, die hässlichen Stellen, das, was das Auge verwirrt. Und macht alles neu, poetisch anders, pittoresk wie ein Bild.

Er verwandelt die Stadt in einen magischen Raum, der uns die Schrecken der grausamen Gegenwart vergessen lässt. Mit dem Schnee wird es gewissermaßen möglich, die Realität einzufrieren. Die meisten von uns waren glücklich, als der Schnee fiel, wie Kinder, die an einem gewöhnlichen Tag nicht in die Schule gehen. Im Radio die Nachricht zu hören, dass die Schule am nächsten Tag geschlossen bleiben wird - was für eine Freude!

Orhan Pamuk, geboren 1952, ist türkischer Schriftsteller. 2006 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Deutsch von Jonathan Horstmann.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3328498
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 12.01.2017/cag
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.