Süddeutsche Zeitung

Buch über Salafismus:Salafismus und die "Gier nach Reinheit"

Jeans-Verbot, willkürliche Koran-Auslegung und die Lehre vom "wahren Islam". Das Buch "Die Salafisten" erläutert trittsicher ein religiöses Phänomen.

Von Simon Wolfgang Fuchs

Deutschland ist längst ein begriffliches Einwanderungsland. Arabisch-islamische Ausdrücke wie Dschihadist, Salafist oder Wahhabit haben sich erstaunlich mühelos in den Duden integriert. Die dahinterliegenden Konzepte zu benennen oder gar auseinanderzuhalten, fällt jedoch selbst Spezialisten schwer. Es ist daher ein Glück für die deutschsprachige Öffentlichkeit, dass sich Rüdiger Lohlker, Professor für Islamwissenschaften an der Universität Wien, in seinem neuen Buch "Die Salafisten" als trittsicherer Erläuterer dieses religiösen Phänomens erweist. Mit seiner klaren Meinung hält der Autor dabei nie hinter dem Berg. Für ihn ist der Salafismus in all seinen Spielarten bedenklich, da er einem friedlichen Zusammenleben und respektvollen Miteinander entgegenwirkt.

Lohlker geht es darum, die salafistische Selbstsicht als einzig authentische Version des Islam konsequent zu hinterfragen. Er unterstreicht die Verwandtschaft des Salafismus mit anderen modernen religiösen Bewegungen wie dem Pietismus, die in ähnlicher Weise die Rolle der Gemeinschaft betonen und den direkten, unverstellten Zugang zu den Textquellen suchen. Die von Salafisten propagierte Rückbesinnung auf die Überzeugungen und Gepflogenheiten der ersten Generationen von Muslimen ist eben keine vom Himmel gefallene, überzeitliche Geisteshaltung. Vielmehr integrierte die heutige Strömung im Laufe ihrer Genese seit dem 17. Jahrhundert eine ganze Reihe an Einflüssen. Das trifft beispielsweise auf eine lokale Tradition der arabischen Halbinsel, den sogenannte Wahhabismus, zu. Mit seiner kompromisslosen Betonung von Gottes Einheit und der darauf beruhenden Ablehnung von "polytheistischen" Praktiken wie Heiligenverehrung lieferte diese Denkschule zentrale Glaubenselemente.

Ebenso ist der heutige Salafismus tief eingefärbt mit antikolonialen Reflexen, was sich in der geforderten gesellschaftlichen Abgrenzung von Nichtmuslimen und andersdenkenden Muslimen ausdrückt. Der selektive Umgang mit Schriften des islamischen Erbes, die nahezu beliebig als textueller "Steinbruch" genutzt werden, weist Salafisten als Kinder der Moderne aus. Sie betrachten auf diese Weise gewonnene und ihres einstmaligen Kontextes enthobene Zitate und Koranverse als "objektive Tatsache, die mit wissenschaftlichen Methoden analysiert" werden kann.

Großen Raum nimmt in Lohlkers Einführung die Darlegung ein, dass trotz dieser geschichtlichen und methodologischen Gemeinsamkeiten, trotz der Herausbildung einer "salafistischen Internationale" im 20. Jahrhundert, nicht von einer homogenen Weltsicht gesprochen werden kann. Das lokale politische Umfeld spielt eine entscheidende Rolle, sei es im Nahen Osten, Nordafrika oder in Europa. Nur so lässt sich erklären, warum unter dem Schirm des Salafismus akademische, apolitische, aktionistische oder gar gewaltbereite Positionen unbehaglich nebeneinander existieren können.

Einige Denker trachteten danach, ihre "Gier nach Reinheit" auch praktisch umzusetzen

Zweifellos hat in den vergangenen Jahrzehnten der weltweite saudische Einfluss dank Investitionen in Bildungseinrichtungen und religiöse Stiftungen zugenommen. Damit verbunden sind Versuche, eine einheitliche, sozial konservative, aber politisch unauffällige Version des Salafismus zu propagieren. Französische Salafisten haben allerdings immer noch eine andere Prägung als deutsche, reiben sich mit ihrem Protest an der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft, deren Wirtschaftssystem oder verschiedenen Vorstellungen zum Verhältnis von Kirche und Staat.

Wie kam es nun inmitten all dieser internen Debatten zur geschichtlich jüngsten salafistischen Ausprägung, nämlich einer zunehmenden dschihadistischen Tendenz, wovon der sogenannte Islamische Staat prominent Zeugnis ablegt? Lohlker weist in diesem Zusammenhang auf eine Gruppe salafistischer Gelehrter hin, die seit den 1980er-Jahren Bedeutung erlangten. Sie hatten längere Zeit in Saudi-Arabien verbracht und legten großen Wert auf Absonderung von allem, was nicht ihrem Verständnis vom "wahren Islam" entsprach. Allein Rechtsgutachten gegen das Tragen von Jeans zu verfassen, war diesen Denkern jedoch zu wenig. Vielmehr trachteten sie danach, ihre "Gier nach Reinheit" auch global und praktisch umzusetzen. Der Krieg in Afghanistan gegen die Sowjetunion in den 1980er-Jahren spielte hierbei eine entscheidende Rolle. Die Wiederrichtung von "authentischer" islamischer Herrschaft war plötzlich auf der Agenda und scheinbar zum Greifen nah. Viele dieser Gelehrten mischten dort kräftig mit und prägten die ideologische Ausrichtung entstehender dschihadistischer Organisationen über Jahre.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum der sogenannte IS als Produkt dieser globalen Prozesse beansprucht, die einzig legitime Verkörperung des Wahhabismus zu sein. Seine Kämpfer verdammen das saudische Königshaus und das religiöse Establishment des Landes als korrumpiert. Beide seien vom rechten Pfad abgekommen und nicht ernsthaft an der Errichtung einer wirklich islamischen Gesellschaft interessiert.

Die rätselhafte Anziehungskraft des Salafismus

Lohlker gelingt eine zumeist klare und verständliche Nachzeichnung all dieser komplexen Zusammenhänge, noch dazu untermauert durch anschauliche Zitate aus arabischen Quellen. Gerade durch die Entscheidung des Autors, die längere geschichtliche Entwicklung des Salafismus in den Vordergrund zu stellen, mutet er seinen Lesern aber auch allerhand zu. Erst auf Seite 135 erklärt Lohlker beispielsweise, warum für Salafisten das Tragen knöchellanger Hosen von so entscheidender Bedeutung ist, obwohl schon in der Einleitung von diesem Merkmal die Rede ist. Erst ab dem siebten Kapitel finden sich nähere Ausführungen zu salafistischen Schlüsselbegriffen wie der "korrekten wissenschaftlichen Methode" (manhadsch), auf welche der Leser zuvor immer wieder stößt. Zudem verweist der Autor auf wichtige islamische Konzepte wie den Grundsatz "das Gute anzuempfehlen und das Böse zu verbieten", ohne die entscheidenden geistesgeschichtlichen Dimensionen für den Leser zu erläutern.

Bedauerlicher ist aber, dass Lohlker davor zurückschreckt, der rätselhaften Anziehungskraft des Salafismus nachzuspüren. Als Erklärungsansatz für den Erfolg der Ideologie in Europa verweist der Autor in knappen Worten auf das Scheitern älterer Konzeptionen des politischen Islam. Diese Lücke hätten Salafisten besetzt "als Protest gegen eine dominante Kultur, Gesellschaft und Politik, die Muslime benachteilige und den moralischen Verfall europäischer Gesellschaften fördere". Jenseits dieser funktionalen Erklärung wäre es aber auch lohnenswert gewesen nachzufragen, warum der Salafismus im 21. Jahrhundert mit seinem Streben nach religiöser Eindeutigkeit und ungewöhnlich starker Betonung von Glaubensinhalten solch einen Nerv bei manchen Muslimen und gerade auch Konvertiten trifft. Als Fazit bleibt daher: Rüdiger Lohlkers Buch ist keine einfache, dafür aber lohnende Reise. Diese führt mitten durch ein, wie er es nennt, "irritierendes Labyrinth", das eine kleine Minderheit als die Essenz muslimischen Denkens schlechthin ausgibt.

Simon Wolfgang Fuchs ist Research Fellow in Islamic Studies am Gonville and Caius College der Universität Cambridge.

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SZ vom 19.06.2017/doer
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