Etwas mehr als zweieinhalb Jahre nach den rechtsextremistischen Breivik-Attentaten in Oslo und auf der Insel Utøya, bei denen 77 Menschen ums Leben gekommen sind, erschüttern in Anne Holts "Ein kalter Fall" zwei neue Anschläge das Land. Dieses Mal scheinen die in Oslo verübten Taten einen islamistischen Hintergrund zu haben. Kurz nachdem die erste Ladung Sprengstoff in einer noblen Wohngegend Oslos explodiert ist, bekennt sich eine Gruppe junger Dschihadisten zur Tat. Seltsam jedoch, dass dieser Anschlag ausgerechnet den liberal ausgerichteten Islamischen Zentralrat getroffen hat, das Video auf altmodischem Weg per Post geschickt wurde und aus Sicherheitskreisen bisher noch niemand etwas von der terroristischen Vereinigung gehört hat.
Eine unbekannte Islamistengruppe stellt die Ermittler vor ein großes Rätsel
Kurz vor der Detonation bekommt Hanne Wilhelmsen - die Kommissarin ist zum neunten Mal die Hauptfigur eines Romans von Anne Holt - Besuch von einem ehemaligen Kollegen. Nachdem sie bei einem Einsatz angeschossen wurde, quittierte sie, nun im Rollstuhl, den Polizeidienst und brach jeglichen Kontakt zu ihrem früheren Leben ab. Umso erstaunter ist sie, als plötzlich Billi T. vor der Tür steht - der ebenfalls nicht mehr bei der Polizei ist - und sie um Rat fragt. Er hat den Verdacht, dass sein Sohn konvertierte und sich einer islamistischen Gruppe angeschlossen hat. Mit der Zeit tauchen weitere Indizien auf, darunter ein Koran im Jugendzimmer, die seine Vermutung zu bestätigen scheinen.
Anne Holt arbeitete bereits als Anwältin, bei der Polizei und war kurze Zeit norwegische Justizministerin. Auch diesem Krimi merkt man ihr Expertinnenwissen auf dem Gebiet der Ermittlungsarbeit und der politischen Machtverhältnisse an. Darüber hinaus hat sie ein gutes Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen. In "Ein kalter Fall" zeichnet sie derart minutiös und erschreckend realistisch nach, wie sehr sich eine europäische Gesellschaft zum Schlechten verändert, wenn sie sich von Islamisten im Innersten getroffen fühlt, dass man meinen könnte, die Terroranschläge von Paris hätten sich vor dem Schreiben des Buches ereignet. Sie fanden jedoch danach statt.
Anne Holts komplex ausgetüftelte und filmisch erzählte Geschichte kann auch ohne die Vorgängerromane gelesen werden. Manche der Dialoge bestehen aus leicht veränderten Originalzitaten extremistischer Kommentatoren aus dem Internet. Die rechten Kräfte gewinnen nach dem Motto "Wir haben es schon immer gesagt" an Aufwind, Muslime stehen plötzlich unter Generalverdacht. Irgendwann sprechen sich siebzig Prozent der Norweger für einen Einwanderungsstopp aus, bald brennt die erste Moschee. Die 200-Jahr-Feier zu Ehren der Verfassung findet trotz der erhöhten Terrorgefahr statt, um zu zeigen, dass man sich nicht einschüchtern lässt, hat durch das große Polizeiaufgebot und die vielen Verbote mit Freiheit aber nichts mehr zu tun. Und Muslime versuchen, einer Stigmatisierung durch Überanpassung zuvorzukommen, machen sich dadurch umso verdächtiger.
Die Protagonisten sind bis zu den Nebenfiguren liebevoll gezeichnet: Der ehemalige Elitesoldat und jetzige Bettler Schuh zum Beispiel taucht immer wieder da auf, wo es brenzlig wird, und überrascht am Ende alle.