Süddeutsche Zeitung

Islam:Einfach aufgelegt

Das Corpus Coranicum, ein Projekt der Wissenschaftsakademie in Potsdam, digitalisiert den Koran samt seinen Quellen und entdeckt dabei Mohammeds Pazifismus.

Von Sonja Zekri

Nicht zu fassen, dass Thilo Sarrazin diese Chance noch nicht ergriffen hat. Millionen Menschen verhüllen ihr Gesicht, geben sich nicht mehr die Hand. Kinos sind geschlossen, Partys verboten. Einige christliche Länder erlauben Männer und Frauen nur noch getrennt auf der Straße. Was, bitte, sollte Covid-19 anderes sein als eine wahhabitische Fantasie? Wie lässt sich das Virus anders deuten denn als islamische Infizierung der freien Welt?

Nur zur Klärung, weil so vieles missverstanden wird: Das Virus ist selbstverständlich keine islamische Verschwörung. Obwohl Sarrazins Anhänger wahrscheinlich auch das geglaubt hätten. Irgendetwas Unschönes plus Islam findet immer sein Publikum. Und kenntnisfreie Islamexperten gibt es mehr als Punkte über und unter den arabischen Buchstaben.

Das Projekt Corpus Coranicum der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften wird an dieser betrüblichen Lage so schnell nichts ändern. Langfristig allerdings sehr wohl. Denn es zeigt, Sure für Sure, Vers für Vers, dass Islam, Christentum und Judentum in der Spätantike nicht wie auf Inseln nebeneinanderher lebten, sondern sich aufeinander bezogen, einander inspirierten, miteinander wetteiferten. Damit aber wird genau jene krampfhafte Trennung unmöglich, auf der am Ende alle Abstoßungsbemühungen beruhen. Gehört der Islam zu Europa?

Genauso wie Christentum und Judentum.

Für den Islamwissenschaftler Zishan Ghaffar steht zweifelsfrei fest, dass der Koran "auf Augenhöhe mit der Bibel als kulturelles und wissenschaftliches Erbe" zu sehen ist. Sehr früh schon und danach viele Jahrhunderte lang hat Europa den Offenbarungstext Mohammeds als Abklatsch abgetan, ja, als Häresie verspottet. Nun aber soll die wissenschaftliche Analyse des Korans belegen: Es ist ein europäischer Text. Dass dies für Muslime wie für Nicht-Muslime eine harte Nuss ist, weiß niemand besser als Zishan Ghaffar.

Die Bibelforschung hat Jahrhunderte gebraucht, bis sie gewaltfrei zwischen der Heiligen Schrift und dem historischen Dokument unterschied

An einem sonnigen Vor-Corona-Tag trifft man ihn in Potsdam mit seinen Kollegen - Historikern, Philologen und Judaisten, Experten für Persisch, Indonesisch, Syrisch-Aramäisch, Griechisch oder Latein. Es sind Ghaffars letzte Tage im Corpus Coranicum, er hat einen Ruf nach Paderborn erhalten als Professor für Koranexegese. Manche muslimische Studenten sehen den Ansatz des Corpus Coranicum skeptisch, das weiß er. Wer den Islam sein Leben lang als Vollendung der Geschichte betrachtet hat und alles Vorislamische als "Jahilija", als Chaos, Heidentum, finstere Unwissenheit, der muss das vorkoranische Schrifttum erst rehabilitieren. Mehr noch: Wenn der Koran als historische Quelle behandelt wird, als Text wie jeder andere datiert, verglichen, kontextualisiert wird, wie viel Heiliges bleibt dann übrig?

Die Bibelforschung hat Jahrhunderte gebraucht, bis sie gewaltfrei zwischen der Heiligen Schrift und dem historischen Dokument unterschied. Der Koran aber, eine sprachliche Theophanie, die Wortwerdung Gottes, ist weniger mit der Bibel als mit Jesus selbst zu vergleichen, was die Aufgabe nicht leichter macht.

Auch Ghaffar, Sohn gläubig konservativer Muslime aus Pakistan, der als Säugling nach Deutschland kam, sich die Hände wusch, ehe er den Koran auch nur anfasste, hatte an der Universität seinem Professor als Erstes eine Hausarbeit zu der Frage angetragen, warum man nicht wissenschaftlich über den Islam schreiben könne. Nach drei Jahren beim Corpus Coranicum aber ist er überzeugt, dass seine Forschung seinem Glauben nützt. "Wenn wir historische Exegese betreiben, dann werden wir den Koran nicht entzaubern, sondern ihm neuen Zauber verleihen. Gute Wissenschaft bietet uns eine bessere Grundlage für die theologische Argumentation."

Corona hat im Bösen geschafft, was die Islamwissenschaftlerin Angelika Neuwirth im Guten erreichen möchte

Wie das aussehen könnte, will er mit seinem gerade erschienenen Buch "Eschatologie und Apokalyptik in den mittelmekkanischen Suren" (Schöningh Verlag) zeigen. Es führt trotz des maximal akademischen Titels in ein opulentes Schlachtengemälde, in den letzten Weltkrieg der Antike. Im Jahr 614 eroberten die persischen Sassaniden Jerusalem von den christlichen Byzantinern, es war ein titanisches Ringen, das von der apokalyptischen Rhetorik überlebensgroßer Herrscherfiguren begleitet wurde. Mohammed aber, in Mekka noch am Beginn seiner Laufbahn als Religionsstifter und weit entfernt vom Staatsmann späterer Tage, solidarisierte sich zwar mit den monotheistischen Byzantinern gegen die zoroastrischen Heiden, aber er entwarf ein anderes Herrscherideal als beispielsweise der christliche Gotteskrieger Herakleios, ja, er trat "fast wie ein Pazifist" auf, sagt Ghaffar: "Diese Aussagen des Koran sind kein Wunschdenken. Wir sind keine Apologeten, sondern wir können das alles historisch-kritisch belegen."

Überhaupt, Jerusalem. Hier ist die Islamwissenschaftlerin Angelika Neuwirth zu erreichen, Leiterin des Corpus Coranicum und Verfasserin des Koran-Kommentars für das Corpus Coranicum. Natürlich nur telefonisch, inzwischen herrschen auch in Israel Corona-Bedingungen, die Stadt, die vor Ostern, Pessach und Ramadan vibrieren müsste, ist ausgestorben. Kirchen, Synagogen und Moscheen sind geschlossen. Corona hat im Bösen geschafft, was Neuwirth im Guten erreichen möchte: die Gemeinsamkeit der drei Religionen hervorzuheben.

Sie findet sie in der Spätantike, jener "inspirierenden und inspirierten" Epoche, in der alle drei Religionen ein ähnliches Gottesbild entwickelten: vom exklusiv für das erwählte Volk Handelnden zum Sprechenden, der allen Menschen verständlich sein kann. Christen, Juden und der entstehende Islam entwickelten ein neues Verhältnis zum Selbst, Kleiderregeln, feste Gebetszeiten, gemeinsames langes Fasten.

Die Schlacht um Jerusalem 614 und der Widerhall im Koran, sagt sie, waren in diesem gemeinsamen Gespräch ein Wendepunkt. Der Koran spricht von einer "Entrückung" des Propheten, Mohammed träumte sich nach Jerusalem, nicht in die real umkämpfte Stadt, sondern an einen spirituellen Ort, ein himmlisches Jerusalem. Darum beteten Mohammed und seine Gefährten sogar vorübergehend Richtung Jerusalem. "Sie hatten eine Exilheimat im Heiligen Land und eine reale Heimat in Mekka", sagt Neuwirth: "Der Islam ist spirituell hier entstanden, wo ich jetzt sitze." Mit dieser Deutung rückt sie den Islam von der Peripherie der arabischen Halbinsel ins religiöse Herz jener Zeit - und wieder ein Stück näher an Europa.

"Corpus Coranicum zeigt einen Weg, wie Grundlagenforschung zum Koran aussehen kann."

Corpus Coranicum ist ein so monumentales wie detailreiches Vorhaben. 2007 begonnen, auf 18 Jahre angelegt ist es eines von 140 Langzeitprojekten der acht deutschen Akademien, die die universitäre Forschung auf weltweit beispiellose Weise ergänzen. Die Potsdamer Forscher haben Datenbanken angelegt, die weltweit abgerufen werden, von Indonesiern, die ihre eigenen Handschriften online zeigen, von jungen Gläubigen in Iran, die - abgestoßen vom offiziellen Religionsmanagement - Anschluss an internationale Debatten suchen. Die Potsdamer digitalisieren die ältesten Handschriften des Korans aus Sammlungen in Istanbul oder Sanaa, Sankt Petersburg oder dem Vatikan. Sie bieten den systematischen Vergleich früher Überlieferungen des Korans, die sich um einen Buchstaben hier, eine Beugung dort unterscheiden, wenig theologisch Entscheidendes, aber doch zum ersten Mal so systematisch dargeboten.

Sind dies schon große Datenmengen, so öffnet sich mit den Texten zur Umwelt des Korans das Fenster ins Unendliche. Sie umfassen alle Dokumente, deren Echo sich im Koran aufspüren lässt: Begriffe, Erzählungen, Symbole oder Gebete, talmudische und mittelpersische Texte, altsüdarabische oder koptische Schriften, Münzen, Siegel, Inschriften. Im besten Fall hilft es, in der kaum oder vage datierbaren Frühphase des Koran naturwissenschaftliche Fakten zu schaffen. Für den Arabisten Michael Marx, der die Arbeitsstelle in Potsdam leitet, ist dies das Fundament für alles andere: "Unser Vorhaben hat nur beschränkte Möglichkeiten, aber Corpus Coranicum zeigt einen Weg, wie Grundlagenforschung zum Koran aussehen kann."

Islamwissenschaften sind eine europäische Erfindung des 19. Jahrhunderts, die vor allem von jüdischen Wissenschaftlern betrieben wurde und im Dritten Reich abriss. Es gibt vieles aufzuholen.

"Der Koran ist eine einzige Debatte mit anderen Religionen", sagt Neuwirth. Lange Zeit haben sich die Muslime bemüht, dieses Gespräch zu führen, sagt sie, "aber die anderen haben einfach den Hörer aufgelegt". Als Reaktion auf die Moderne setzte sich im Islam eine textfixierte Lesart durch, die weder an der Spätantike, noch an irgendeiner Polyfonie oder auch nur der eigenen offenen Auslegungstradition Interesse hatte. Corpus Coranicum könnte ein Weg sein, um den Hörer wieder aufzunehmen.

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SZ vom 11.04.2020
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