Süddeutsche Zeitung

Isarphilharmonie:Akustischer Frontalunterricht

Lesezeit: 5 min

Ein Misstrauen gegen neue Welten wird am Eröffnungsabend der Isarphilharmonie spürbar. Trotz mangelnden Akustikglücks passt der neue Konzertsaal aber bestens zum speziellen Münchner Charme.

Von Reinhard J.Brembeck

Der Münchner Charme ist eine ästhetisch und philosophisch für Fremde schwer fassbare Kategorie. Weil sich in ihm Widersprüchlichstes bruchlos zusammenfügt: das Faible für Bierfeste (in Nichtseuchenzeiten wäre die Wiesn vor einer Woche zu Ende gegangen), für den notorischen Widerspruchsgeist der CSU, für den für pralle Frauenakte bekannten katholischen Barockmaler Peter Paul Rubens, für eine schillernde Halbprominenz, für die Sechziger (ein beliebter erfolgloser Fußballklub) sowie eine Leidenschaft für traditionelle klassische Musik. Zu diesem Münchner Charme passt daher bestens, wenn in einer ehemaligen Fabrikhalle, in der einst Trafos produziert wurden und die ihren Arbeitercharme keineswegs versteckt, 1900 festlich und fast nur in Schwarz gekleidete Menschen erwartungsfroh herumstehen und gleich erstmals in die neu gebaute Isarphilharmonie daneben strömen werden. Die Akustik in dieser 100 Jahre alten Trafohalle nah an der herbstliche Feuchtdünste aussendenden Isar unweit des Flauchers ist wunderbar. Die Gesprächsklangkulisse bleibt angenehm murmelig, knallt und wabert nicht. Aber das interessiert niemanden.

Genauso wenig wie die gerade im Abklingen begriffene Seuche, die vielleicht gerade zu einem neuen Angriff auf die Menschheit ansetzt, wie manche Virologen glauben. Gscheidhaferl sagt man in Bayern zu solchen Besserwissern. Jedenfalls hat der Hobbyvirologe und Profilandesvater Markus Söder gerade verfügt, dass so eine Kulturgroßveranstaltung auch ohne Masken geht, wenn die selig machenden drei Gs befolgt werden. Des Söders Wort ist in Bayern das Evangelium, also trägt kaum jemand Maske. Es wäre wenig verwunderlich, wenn die Menge jetzt das alte Nürnberger Kirchenlied "O Tod, wo ist dein Stachel?" anstimmen würde.

Allerdings ist trotz Einladung kein Mensch von der Staatsregierung zu diesem Event erschienen. Haben die heimlich doch mehr Angst vor der Seuche als ihr Chef? Oder kommen sie nicht, weil es hier um Kunst geht? Schließlich hat sich der Söder Markus in den letzten eineinhalb Jahren als ganz harter Hund erwiesen, wenn es darum ging, Künstler und ihre Aufführungsmöglichkeiten möglichst brutal zu behindern. Vielleicht ist es aber auch nur der Neid darauf, dass die von einem SPD-Oberbürgermeister regierte Stadt in nur drei Jahren und für nur 70 Millionen Euro ein ganzes Kulturzentrum samt Konzertsaal hingestellt hat, während die CSU, die den Rest Bayerns beherrscht, es schon seit Jahrzehnten nicht schafft, einen sehr viel teureren Konzertsaal (700 Millionen?) zu bauen, in erster Linie als Auffanglager für die heimatlos durch die Münchner Säle nomadisierenden Sinfoniker des Bayerischen Rundfunks.

Jetzt beginnt der Exodus aus der Trafohalle, in der sich auch die Garderoben und wenigen WCs befinden und in der schon bald die Münchner Stadtbibliothek ihre Hauptfiliale eröffnet. Durch einen für 1900 Besucher sehr engen Einlass gelangen die Klassikanhängerinnen in einen schwarz gestrichenen länglichen Holzkastenkonzertsaal aus kanadischer Zeder (Nachhaltigkeit?), nur der Bühnenboden ist hell. Das ist pädagogisch wertvoll, weil es den Hörern genau signalisiert, wo die Musik spielt. Aber erst wird geredet, die Münchner Philharmoniker, das Hausorchester der Isarphilharmonie, sitzt dabei erwartungsfroh schon im Halbrund.

Ein Misstrauen gegen neue Welten

Max Wagner ist der Chef des nur 50 Gehminuten isarabwärts gelegenen Kulturzentrums Gasteig, das nach 35 Jahren auf seine Generalsanierung wartet. In der vielleicht zehn Jahre dauernden Interimszeit arbeiten Philharmoniker, Stadtbibliothek, Kammerorchester, Volks- und Musikhochschule in dem so gar nicht wie ein Interim wirkenden Interimsbau Gasteig HP8, das schicke Kürzel steht für die Adresse Hans-Preißinger-Straße 8. Max Wagner strahlt ein Glück aus, als hätte er zu Weihnachten einen Ferrari bekommen und zudem das große Los gezogen, was bei diesem 70-Millionen-Bau (40 Millionen kostet die Isarphilharmonie selbst) verständlich ist. Dann bemüht er Hermann Hesses jedem Anfang innewohnenden Zauber, und gleich legt der Münchner SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter mit jeder Menge Glück nach. Sensationell nennt er es, in nur drei Jahren und so kostengünstig HP8 realisiert zu haben. Dann schiebt als Seitenhieb auf die abwesende Staatsregierung nach, dass dieses Projekt als Blaupause für andere Kulturbauten dienen könnte, müsste, sollte. Reiter freut sich, dass das Projekt bisher von Kritik verschont blieb.

Frage: Ist es zeitgemäß und zukunftweisend, wenn am Eröffnungsabend mit Ludwig van Beethovens viertem Klavierkonzert und der zweiten Suite aus Maurice Ravels Ballett "Daphnis et Chloé" die gängige und in München heiß geliebte Klassikkulinarik bedient wird, wenn Henri Dutilleux' raffiniert konzipierte "Métaboles" vor allem in den stürmischen Passagen überzeugen und wenn die Stücke der beiden lebenden Komponisten Rodion Shchedrin und Thierry Escaich bloß bekannte Klanggesten aufwärmen? Das Misstrauen gegen neue Welten, das musste schon Richard Strauss erfahren, ist in München heilige Folklore, und Philharmonikerchef Valery Gergiev passt bestens in diese Isarästhetik.

Zweite Frage: Und ist es zeitgemäß und zukunftweisend, wenn bei einem Festakt zwei Redner auftreten, wenn ein Dirigent und ein Pianist fünf Komponisten mit einem mehrheitlich von Männern besetzten Orchester aufführen? Das ist sicher keine böse Absicht. Was ist es dann? Denkfaulheit, Weltfremde, strukturelle Frauenfeindlichkeit? Auf jeden Fall suggeriert dieser Abend, dass man(n) zwar nichts gegen Frauen habe, dass einem das Patriarchat aber doch im Großen und Ganzen lieber ist. Schließlich liegt München in Bayern, doch selbst der Söder hat bei den Bundestagswahlen seine Landesliste paritätisch besetzt. München leuchtete, klagte schon Thomas Mann, jetzt könnte man sagen: München glost. Glosen? Steht im Duden und meint "schwach glühen, glimmen".

Unangenehmer Eindruck von Frontalunterricht

Der Kritiker sitzt mitten im Raum in Reihe 17, doch andere Hörerinnen auf anderen Plätzen mögen ganz andere Erfahrungen gemacht haben. In Reihe 17 aber klingt der auf halber Höhe über dem Orchester positionierte Philharmonische Chor am besten. Der Chorklang ist weich und dunkel und hat Körper. Da kann der Philharmonikerklang nicht mithalten. Die Streicher wirken in der Höhe gleißend hell, die Bässe erinnern ein wenig an ein Formel-1-Rennen, die Bläser, sogar das Blech, werden benachteiligt. In den Lautstärke-Exzessen macht sich eine Tendenz zum Blechernen und Schepprigen bemerkbar. Mittlere Lautstärken wirken neutral. Der Klang ist nüchtern, ihm fehlt Magie. Jede Feinheit und sogar der Ansatz bei den Bläsern ist hörbar, das Verklingen der Töne bildet gelegentlich Schlieren. Jede Ungenauigkeit, jede Unachtsamkeit ist zu hören. Zudem kommt der Klang nur von vorn. Er ummantelt den Hörer nicht, was den unangenehmen Eindruck von Frontalunterricht verstärkt, der durch die konservative Raumform vorgegeben ist - und diese lässt durchaus keine Assoziationen mit Demokratie und Aufbruch aufkommen.

Die Akustik hat der weltberühmte Yasuhisa Toyota konzipiert, der es mit seiner ganz auf exakte Zeichnung, Nüchternheit und Klarheit setzenden Ästhetik bei der Hamburger Elbphilharmonie übertrieben hat. Der Münchner Saal ist versöhnlicher im Klang, musiker- und hörerfreundlicher. Und Daniil Trifonov, dieser Megaklaviervirtuose, hat wenig Schwierigkeiten, sich mit dieser Akustik anzufreunden. Er bringt das Klavier selbst in den einstimmigen Läufen prall zum Klingen, er vermeidet in den vielen hohen Passagen jedes Klirren. Für einen Solisten aber ist es immer einfacher, sich auf die Eigenheiten eines Saals einzustellen, als für ein Kollektiv. Die Philharmoniker werden sich in den nächsten Konzerten mit Sicherheit auch auf diese heikle Akustik einstellen, ihr Spiel wird sich den Gegebenheiten anpassen. Ob das dann aber das vollkommene Akustikglück für die Hörer bedeuten wird?

In den weniger inspirierten Momenten dieses Drei-Stunden-Abends gleitet des Zuhörers Blick manchmal doch von den Musikern auf dem hellen Podium fort und verliert sich im Dunkel über der Bühne. Dort fühlt sich der Blick dezidiert unwohl. Dieser schwarze und abweisende Kasten erinnert an die Ödnis eines Betonbunkers. Es wäre keine Überraschung, wenn sich plötzlich eine Luke öffnen würde, aus der ein Geschütz auf die Zuschauer feuern würde. Das ist natürlich eine abstruse Assoziation, aber sie drängt sich auf. Wird das schwarze Loch auch andere Zuhörerinnen stören, ihnen auf Dauer die Lust an diesem Saal vermiesen? Abwarten. Vielleicht aber findet jemand vom Gasteig-Team noch irgendwo ein paar Kübel Farbe.

Ob das Publikum den neuen Saal annehmen wird, ist nach diesem ersten Konzert nicht ausgemacht. Es gab noch nie so viel zu tun, Macher sind jetzt gefragt. Fraglos aber passt die Isarphilharmonie zum ganz speziellen Münchner Charme, dem Perfektion, Hochglanz und reibungsloses Funktionieren noch nie die höchsten Werte waren. Wie auf der Wiesn.

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