Süddeutsche Zeitung

Isabelle Huppert in "Elle":Abgrundtief gelassen

Paul Verhoeven fand für "Elle" keine amerikanische Hauptdarstellerin. Aber dann kam Isabelle Huppert. Nun könnte sie in der Rolle einer vergewaltigten Frau den Oscar gewinnen.

Filmkritik von Tobias Kniebe

Wirklich das Erste, was man hier sieht, ist eine fette graue Katze mit grünen Augen. Sie blickt auf ein Geschehen, dass sich zunächst nur akustisch mitteilt: zersplitterndes Glas, lautes Stöhnen einer Frau, dann eines Mannes, wuchtig aufklatschende Schläge.

Die Katze beobachtet das mit einem tiefen, fast unhörbar grollenden Schnurren, dann wendet sie sich ab und geht. Sobald sie weg ist, darf die Kamera ihren Platz einnehmen und nun selber schauen. Sie schaut mit derselben absoluten Distanz, demselben interessierten, aber auch ratlosen Blick wie die Katze.

Man sieht also eine Frau auf dem Boden, umgeben von Scherben. Ein Mann liegt auf ihr drauf. Er hebt den Kopf, versteckt unter einer schwarzen Strumpfmaske, nur die Augen sind frei. Steht auf, wischt sich zwischen den Beinen ab, zieht seine Hose hoch und geht hinaus, durch die offene Gartentür. Es läuft gedämpfte klassische Musik.

Die Frau, Michèle heißt sie, um die fünfzig wird sie sein, liegt noch eine Weile da, die Beine auseinandergezwungen, die Brust entblößt. Dann dreht sie sich mühsam zur Seite, richtet sich auf, starrt scheinbar verloren ins Leere. In der nächsten Einstellung fegt sie die Scherben zusammen. Danach betrachtet sie ihr blaues Auge im Spiegel, wirft ihre Kleidung gleich in den Abfalleimer, nimmt ein Bad und bestellt Sushi - gerne auch die "Holiday Rolls". Sie wird gespielt von Isabelle Huppert. "Elle" heißt der Film.

Bisweilen konnte Verhoeven auch amerikanische Schauspielerinnen zu gewagten Auftritten bewegen

"Keine amerikanische Schauspielerin hätte einen derartigen Part angenommen", sagt der holländische Regisseur Paul Verhoeven, nach Jahren in Hollywood wieder Europäer, inzwischen fast achtzig Jahre alt. Er und seine französischen Produzenten hatten lange versucht, den Stoff in Hollywood zu verfilmen. Und obwohl Verhoeven durch Filme wie "Basic Instinct" und "Showgirls" wirklich einige Erfahrung damit hat, amerikanische Schauspielerinnen zu gewagten Aufritten zu bewegen, hat es in diesem Fall nicht geklappt.

Man ahnt warum. Wenn man schon in derart benutzter und erniedrigter Lage abgefilmt wird, als Opfer einer Vergewaltigung, hofft man ja doch eher auf einen mitfühlenden Blick, eine besondere Empathie. Die gibt es hier aber nicht.

Womit Isabelle Huppert nun wiederum kein Problem hat. Sie hatte, nur ein Beispiel unter vielen, auch schon vor Jahren keinerlei Bedenken, als "Klavierspielerin" in die dunkle und erniedrigende Welt von Elfriede Jelinek und Michael Haneke einzutauchen. Durch ihren Mut wurde "Elle", der auf dem Roman "Oh ..." des französischen Autors Philippe Djian basiert, ein französischer Film.

Es geht dann damit weiter, dass Michèles erwachsener Sohn kommt und ihr blaugeschlagenes Auge sieht. Sie sagt ihm, sie sei vom Fahrrad gefallen. Seine Nachricht, dass er endlich einen Job gefunden hat, bei einer Fast-Food-Kette, kommentiert sie mit einem unnachahmlich herablassenden "Wo auch sonst?" Dann sagt sie unschöne Dinge über seine schwangere Verlobte Josie. "Ich habe doch gar kein Geld, auf das Josie es abgesehen haben könnte", protestiert der Sohn. "Ich schon", antwortet sie knapp.

Immer klarer wird, dass sie auch nach dieser Vergewaltigung auf fast beängstigend nüchterne Weise alles unter Kontrolle hat - ihr Leben allein in ihrem großen Haus, ihren Sohn, ihr Geld, ihren Job als Besitzerin einer Softwarefirma, die grausame Videospiele programmiert, ihre schamlos altersgeile Mutter, ihren verwirrten Ex-Mann und ihren absurd sexbesessenen Lover, von dem niemand wissen darf, weil er der Mann ihrer Firmenpartnerin und besten Freundin ist. Wie sie all diese Elemente jongliert, ist manchmal sogar lustig - und zugleich merkt man, dass sie tatsächlich auf sich allein gestellt ist. Jeder um sie herum ist komplett mit seinem eigenen Schwachsinn beschäftigt.

Aber sie ist keine schwache Frau. Sie fühlt sich nicht als Opfer. Sie sagt erst einmal niemandem etwas. Als ihr Vergewaltiger Signale schickt, dass er wiederkommen wird, und anfängt, sie mit unfassbaren Textbotschaften zu quälen ("Für dein Alter bist du extrem eng"), kauft sie zwar Pfefferspray und ein kleines Beil, bleibt aber auf eine Weise gelassen, die atemberaubend ist.

Dieselbe abgrundtiefe Gelassenheit strahlt auch Isabelle Huppert aus, wenn man sie nach den "Schwierigkeiten" einer solchen Rolle fragt. Welche Schwierigkeiten? Man entscheidet sich für einen Part, und dann spielt man ihn. Mit allem, was dazugehört. Man darf sich also auf keinen Fall eine Schauspielerin vorstellen, die von einem genialischen alten Kinowüstling hier zu irgendwelchen Dingen getrieben wird. Paul Verhoeven hat freimütig eingeräumt (SZ vom 7. Februar), dass er alle Kontrolle über die Figur der Michèle vollständig an Isabelle Huppert übergeben hat, gleich nach Beginn der Dreharbeiten. Weil sie offenbar so viel besser wusste, was sie tat. Isabelle Huppert aber sagt, dass sie ihre Figur bis zum Schluss nicht verstanden hat - und genau das spannend fand.

Jetzt hat sie den Golden Globe für diese Performance gewonnen - und ist für den Oscar nominiert. Zwar als Außenseiterin im "La La Land"-Fieber, doch es gab auch schon andere französische Außenseiterinnen, die am Ende gewonnen haben. Vor allem aber zeigt diese Würdigung in den liberalen Filmzirkeln der USA, dass es dort neben dem Klammern an politische Korrektheit offenbar eine starke Faszination für die Dunkelheit gibt, die Hollywood selbst nicht mehr so recht hinkriegt. Und für die ja doch gewagte Idee, dass sich Menschen in Extremsituationen manchmal selbst nicht mehr verstehen, wobei man ihnen dann mit interessiertem, aber irgendwie auch ratlosem Blick zuschauen kann.

Wie sehr sich Michèle ein Rätsel ist, sieht man etwa an der Geschichte aus ihrer Kindheit, die sie immer noch verfolgt. Offenbar ist ihr Vater ein berühmter französischer Massenmörder. Er sitzt noch immer im Gefängnis, jetzt ein Greis. Im religiösen Wahn hat er einst 27 Menschen umgebracht und danach sein Haus verbrannt - sie half ihm mit dem Feuer.

Das Gefühl, ebenfalls auf der dunklen Seite zu stehen, erklärt vielleicht Michèles Gelassenheit

Das Bild der Zehnjährigen in Unterwäsche, mit leeren Augen vor den rauchenden Trümmern, ging damals um die Welt. Und im Blick der sensationshungrigen Öffentlichkeit wurde Michèle damit selbst eine Täterin, eine Art kindliche Hexe. Stammt daher ihre Weigerung, zur Polizei zu gehen? Sie sei selbst Opfer ihres Vaters geworden, sagt sie einmal sehr bestimmt. Aber glaubt sie heimlich vielleicht doch etwas anderes? Das Gefühl, ebenfalls auf der dunklen Seite zu stehen, könnte zumindest ihre Selbstbestimmtheit, Entschlossenheit und Gelassenheit im Blick auf den Triebtäter erklären, der sie bedroht. Und später dann auch die seltsamen Dinge, die sie tut, als er tatsächlich wieder in ihr Haus eindringt - und es ihr im Kampf gelingt, ihm die Maske vom Gesicht zu reißen.

Ihre beste Freundin gesteht Michèle einmal, dass sie ihren Mann einer Affäre verdächtige, deshalb an seiner Unterwäsche geschnüffelt habe und sich nun sehr dafür schäme. Michèle, die selbst diese Affäre ist, bewahrt ihr Pokerface und sagt nur: "Kein Schamgefühl ist so stark, dass es uns an irgendetwas hindern würde. Glaub mir." In der Welt dieses Films trifft dieser Satz vollkommen zu, und er wirkt erstaunlich befreiend. Es ist schon wirklich ein sehr französischer Film.

Elle, F/D/B 2016 - Regie: Paul Verhoeven. Buch: David Birke. Kamera: Stéphane Fontaine. Mit Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Anne Cosigny, Charles Berling. Verleih: MFA, 130 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 15.02.2017/cag
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