Seit Isabel Allende vor fast einem halben Jahrhundert ihren Debütroman "Das Geisterhaus" veröffentlichte und aus dem Stand zu einer der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Welt avancierte, hat sie rund 20 Romane geschrieben. Das ist etwa einer jedes zweite Jahr. Nun kommt pünktlich zu ihrem 80. Geburtstag ihr neuestes Buch auf Deutsch heraus: "Violeta". Betrachtet man es zusammen mit ihrem Erstling, so kommt es einem vor, als schlössen sich die beiden, jenseits des künstlichen Einhalts der Buchdeckel, zu einem einzigen Strom zusammen.
Wieder handelt die Geschichte von einer chilenischen Familie der oberen Mittelschicht über vier Generationen hinweg, wieder passieren Katastrophen und die heftigsten Ereignisse, ohne dass es den ruhigen Atem dieses Erzählens beirrte, und wieder sind es die Frauen, die den Laden zusammenhalten, während auf die oft kindischen Männer meist kein Verlass ist.
Newsletter abonnieren:SZ Literatur
Interessante Bücher, dazu Interviews und ausgewählte Debatten-Beiträge aus dem Feuilleton - jeden zweiten Mittwoch in Ihrem Postfach. Kostenlos anmelden.
Zum ersten Mal verzichtet sie weitgehend auf den Magischen Realismus
Violeta wird 1920 geboren, als die Spanische Grippe grassiert, und sie gibt ihren Bericht, todesnah, im Jahr 2020, mitten in der Corona-Zeit. Sie lebt von Pandemie zu Pandemie und erfreut sich dabei der robustesten Gesundheit. Das Geschäft ihrer Familie geht in der Großen Depression bankrott, und das kleine Mädchen wird in "Verbannung" in den tiefen ländlichen Süden Chiles geschickt, den die Zivilisation damals noch nicht erreicht hatte. Alle machen hier alles selbst, vom Gemüseanbau bis zum Mobiliar, und sie fühlt sich nicht schlecht in dieser Umgebung.
Zwar hängt ihr Dasein nicht von den Männern ab, aber sie periodisieren es doch. Am Anfang steht der fade deutschstämmige Tierarzt Fabian; auf ihn folgt Julian Bravo (er heißt wirklich so), ein Athlet und Abenteurer, Schuft und begnadeter Liebhaber, Vater ihrer zwei Kinder, der sich immer mehr in kriminelle Geheimaufträge verstrickt. Gegen Ende ihres immer noch sehr aktiven Lebens wählt sie einen gesetzten skandinavischen Diplomaten. Violeta verlässt Chile, hierin ihrer Autorin gleich, und geht in die USA. Die Geschichte franst hier ein wenig aus; aber in der ehrwürdigen hohen Zahl ihrer Lebensjahre und ihrer liebevollen Zuwendung zu ihrem Enkel Camillo, dem Sohn ihrer verstorbenen Tochter, rundet sich das Ganze dann doch wieder.
Wenn man sagt, dass das neue Buch klinge, als hätte das alte einfach nie aufgehört, so betrifft das Art, Tempo und Dauer des Stoffs. In struktureller Hinsicht dagegen hat die nunmehr sehr erfahrene Autorin einige deutliche Verbesserungen vorgenommen. Zum ersten Mal verzichtet sie weitgehend auf den Magischen Realismus. Nicht, dass es nun keine Zauberheilerinnen mehr gäbe, aber sie gehören eher zur Folklore, und was sie ausrichten, bleibt unklar.
Im "Geisterhaus" dagegen gehen die Toten um, und die Salzfässer wandern selbsttätig über den Tisch. Das war zwar auch dort schon eher Dekor als epische Notwendigkeit, hat aber dennoch die Verlässlichkeit von Figuren und Ambiente beschädigt und den Ton ins Märchenhafte verschoben. Man kann nur eins von beiden haben, Realismus oder Magie - das hat Allende eingesehen und die richtige Entscheidung getroffen. In "Violeta" führt durchgängig eine Ich-Erzählerin das Wort, das stärkt die Fokussierung.
Alles, was die Kritik sonst gern unmittelbar der Autorin vorwirft, verwandelt sich hier in die Charakteristik ihrer Protagonistin
Im "Geisterhaus" war einst die einzige Person, die Ich sagen durfte, ausgerechnet der cholerische Patriarch, der sich in seinen Ausbrüchen selbst nicht mehr kannte: eine glatte Fehlbesetzung. Dass es nurmehr eine einzige, und zwar eine Ich-Instanz gibt, hat noch einen weiteren Vorzug, den man auf Anhieb für einen Defekt halten könnte: Damit wird der erhebliche Grad von Borniertheit und Blasiertheit, der sich in diesem Buch findet, indirekt als Teil der Figurengestaltung fruchtbar gemacht. Was die Kritik sonst gern unmittelbar der Autorin vorwirft - dass sie von den Scheuklappen ihrer Klasse und Umwelt nicht loskomme, dass sie, und noch dazu als Trägerin des Namens Allende, sich nicht um politische und ökonomische Zusammenhänge schere -, all das verwandelt sich hier in die Charakteristik ihrer Protagonistin.
So wird aus der naiv gesetzten (und nicht selten ebenso naiv rezipierten) "Starken Frau" gewissermaßen unter der Hand eine starke Figur, die ihrer Naivität freien Lauf lässt. Abschreckendes Beispiel einer starken Frau in Aktion war etwa "Inés meines Herzens" gewesen. Inés, Gattin des Conquistadors Valdivia, der Chile für Spanien eroberte, war mit dabei, als ganze indigene Stämme lebendig verbrannt wurden oder man in einer Hungersnot die Toten auf dem Friedhof ausgrub, um ihr Fleisch zu essen, ohne dass sie das seelisch sonderlich mitnahm. Das schien in Ordnung zu sein, so, wie die Erzählung es darbot.
Wenn dagegen Violeta auf ihre Jahre bei den Bauern im Süden zurückblickt und sich gerührt über deren schlichte Treue äußert, dann fühlt sich der Rezensent an seine snobistische Großmutter erinnert (welche es leider statt auf 100 nur auf 99 und ein Dreivierteljahr brachte), die bei solchen Gelegenheiten ausrief: Ganz einfache Leute, aber soo nett! Die Komik, die man hier empfindet, ist vielleicht nicht im Sinn der Autorin, aber sie stellt eine Möglichkeit der Rezeption dar. Verschließt man sich dieser Lesart, dann ärgert einen bloß die aller Zweifel bare Unverwüstlichkeit der Heldin.
Viele, sehr viele Leserinnen und Leser empfinden es als beruhigend, sogar als tröstlich, wenn ihnen so vom Gang der Welt erzählt wird
Man werfe Allende auch nicht vor, was zum Genre gehört. Ihr Genre ist die Saga, also die generationenübergreifende Familiengeschichte. Die bringt alle noch so heterogenen Vorgänge und Zustände auf den einen Nenner des zeitlichen Verlaufs. Das nimmt den Geschehnissen ihre Dynamik und führt dazu, dass eine lange Kette wechselnder Emotionen paradoxerweise ganz emotionslos gesprochen wirken kann. Baustein der Saga ist nicht die Szene, sondern die Phase. Die Phase der sinnlichen Liebe etwa (enthalten im zweiten Teil, betitelt "Leidenschaft 1940 - 1960") wird so dargestellt: "Ich versank im wonnigen Sumpf der befriedigten Begierde, die umgehend neu erwachte, weil nichts meinen urwüchsigen Durst auf diesen Mann stillen konnte."
Man sollte das nicht als Sumpf- und Stilblüte schmähen, sondern die strukturelle Notwendigkeit und Beschränkung erkennen, die hier Gestalt gewinnt. So war es nicht nur einmal, sondern viele Male, solange es währte; und der Satz stellt sozusagen die leere Puppenhülle dar, nachdem der Schmetterling der Augenblicke ausgeflogen ist. Selbstverständlich gibt es grundsätzliche Einwände dagegen, Historie in Form der Saga zu verhandeln, einer Form, die ein enges Feld über eine lange Zeit begleitet und dabei unausweichlich eindimensional wird, bis nichts mehr übrig bleibt als Zeit überhaupt.
Einräumen muss man aber in jedem Fall, dass Allende diese Form zu ihrer Konsequenz geführt hat. Viele, sehr viele Leserinnen und auch Leser scheinen es als beruhigend, sogar als tröstlich zu empfinden, wenn ihnen so vom Gang der Welt erzählt wird. Wenn Isabel Allende am heutigen Tag 80 Jahre alt wird, dann hoffen sie, dass sie darüber hinaus wie ihre Heldin das Jahrhundert voll machen möge: auf dass sie ihnen noch zehn weitere dieser Romane beschere.