Was hätten die Steine nicht alles zu erzählen, wenn ihnen nur mal jemand zuhören würde. Wie das "Tapp-tapp" der Tiere sie Abend für Abend in den Schlaf wiegt. Wie sie bebten, als während des Bürgerkriegs die Granaten einschlugen. Oder wie sie sich, noch viel früher, einst emporschwangen zum Himmel, "tonnenweise Felsen und Erde, Granit, Gneis und Kalzit", sich in Falten legten, um ein Gebirge zu bilden.
Das Gebirge, dessen Felsen in Irene Solàs Roman "Singe ich, tanzen die Berge" erzählen, sind die Pyrenäen. Die katalanische Autorin bringt sie auf sehr spezielle Weise zum Sprechen und entwirft so in ihrem Roman eine Natur-Dichtung, die in der zeitgenössischen europäischen Literatur ihresgleichen sucht.
Steine zum Weinen zu bringen, ist seit Orpheus Traum der Dichtung. Bei Irene Solà fühlen und erzählen aber nicht nur die Steine, sondern auch Wolken, Totentrompeten, Wasserfrauen, Rehe oder Hunde. Sie sprechen nicht unbedingt miteinander, wohl aber zu den Lesern. Bei Solà hat jede Strophe dieses vielstimmigen Gesangs eine ganz eigene Melodie, einen anderen Takt und erhält so eine in sich stimmige Poesie. Gemeinsam ergeben die Strophen ein Lied, das vom Leben an den kargen Hängen der spanischen Pyrenäen erzählt und in andere Ebenen der Realität entführt. Ganz real und magisch zugleich.
Solàs Roman, der aus 18 einzelnen Erzählsträngen besteht, die sich nach und nach zu einem Teppich verweben, setzt ein mit der Rede der Wolken: "Wir kamen mit vollen Bäuchen. Prallvoll. Schwarze Leiber, schwer von dunklem, kaltem Wasser und Blitz und Donner. Wir kamen vom Meer und von anderen Bergen und wer weiß woher noch und hatten wer weiß was gesehen."
Und wie die Wolken so erzählen, vom Blitz, den sie in den Kopf eines Bauern hineinfahren lassen, und von den Schnecken, derer sie eine Handvoll ertränken, ohne es wirklich zu wollen, da entfaltet der Roman schon auf den ersten Seiten einen Sog, der auch knapp 200 Seiten später noch nicht nachgelassen hat.
"Singe ich, tanzen die Berge" ist Solàs zweiter Roman und der erste, der auf Deutsch erscheint. Das Sprechen der Tiere und der angeblich unbelebten Natur, diese besondere Form von literarischem Pathos, beschäftigte die Autorin auch in ihren ersten beiden Werken schon, dem Gedichtband "Bèstia" und ihrem Erstling "Els dics". Das mosaikartige Erzählen gehört ebenso zum Stil, den sich die 1990 geborene Autorin mit ihren ersten Werken erarbeitet hat, wie der besondere Rhythmus ihrer Sprache: Die Sätze sind kurz, aber nicht abgehakt, weil sie von einem Legato verbunden werden, das durch Wiederholungen und Taktwechsel erst entsteht.
Eine Wasserfrau, die die Natur sprechen hört, wird als Hexe verfolgt
Nach dem ersten Kapitel ziehen die Wolken weiter, schlaff, leer und verausgabt. Den Menschen, den sie töteten, lassen sie einfach liegen. Ihn werden bald die Wasserfrauen finden, als Hebammen und Hexen sind sie die Brücke zwischen Menschen-, Tier- und Sagenwelt. Eine dieser Wasserfrauen erzählt von der Folter, die sie ihr angetan haben, von den "nach Pisse stinkenden Räumen", den "langen, langen Seilen" und den "wollenen Lappen voller Asche", vor allem aber von der "Warterei, dass ich endlich aufhörte zu lachen und gestand". Sie wurde als Hexe verfolgt, misshandelt und eingesperrt. Dabei ist sie eine der wenigen Hellsichtigen und weiß daher, dass die Natur sprechen kann. Es ist diese Hellsicht, von der Solàs Roman zehrt.
Dass ihre einfache und doch kraftvolle Sprache auch im Deutschen ihre Wirkung tut, verdankt der Roman, der im kleinen, erst kürzlich in Berlin gegründeten Trabanten-Verlag mit großem Engagement verlegt wird, der Übersetzung von Petra Zickmann. Sie hat den Sound dieser oft schroffen Berg-Sprache behutsam aus dem Katalanischen ins Deutsche hinübergehoben und ihm glücklicherweise seine Herbheit erhalten.
"Drinnen waren wir nicht nass. Drinnen waren wir dunkel und warm. Draußen waren wir nass. Und die Augen wussten nicht, was Sehen war, weil sie noch nie gesehen hatten. Drinnen war alles dunkel, und sie wussten nicht, dass sie zum Sehen dienten. Die Lider geschlossen, ruhend. Draußen waren wir nass, und die Luft sagte uns, dass wir nass waren. Ihr seid nass, ihr seid nass, sagte sie. Und die Kälte war zum Verzweifeln. Und Mama kam mit einer Zunge, die warm war wie die Erinnerungen. Mit einer Zunge, die Angst und Blut ableckte."
Ein junger Rehbock erzählt hier vom Moment seiner Geburt. Hat man so etwas schon gelesen? "Fuchs 8" von George Saunders fällt einem da gleich ein, wo ein Fuchs die Menschensprache gelernt hat und von seinem Kampf gegen den Bau eines Einkaufszentrums berichtet. Doch was bei Saunders zur Fabel auf die moderne Zivilisation gerät, ist bei Irene Solà ein ganz eigener, in sich stimmiger Kosmos. Hier sprechen die Tiere nicht, um den Menschen eine Lektion zu erteilen. Ihr Sprechen ist nicht bloß ein neuer Aufguss des alten Kampfes Natur gegen Kultur. Es steht autark, ist sich selbst genug.
Solà sagt, sie finde die Inspiration für ihr Schreiben vor allem in der katalanischen Sagenwelt und in den Geschichten ihrer Heimat. Aufgewachsen ist sie in einem winzigen Dorf, 50 Kilometer von der spanisch-französischen Grenze entfernt. Im "leeren Spanien", dem Demografen schon seit Jahren eine aussichtslose Zukunft bescheinigen.
Solàs Stoff ist alt und abgegriffen, könnte man meinen. Doch die Autorin hat dafür eine so eigene, außergewöhnliche Form gefunden, dass die spanische Literaturwelt nach der Veröffentlichung von "Singe ich, tanzen die Berge" monatelang außer sich war. Unerhört fand die Literaturkritik diese Sprache und das, was Solà in ihrer literarisch-geologischen Arbeit aus den Felsen der Pyrenäen-Hänge an Schichten und Geschichten herausgeschürft hat.
Nun kann dieser Roman endlich auch für ein deutschsprachiges Publikum zum Erlebnis werden. Ihm sind viele Leser zu wünschen - und es ist vielen Lesern zu wünschen, dass sie ihn entdecken. Denn "Singe ich, tanzen die Berge" spendet beim Lesen Trost, ganz ohne kitschig sein. Auf schlicht-schöne Weise erzählt der Roman davon der wichtigen Einsicht, dass der Mensch sich nicht allzu wichtig nehmen sollte.