Süddeutsche Zeitung

Iranisches Kino:Warum starb Amir K.?

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In seinem Film "Eine moralische Entscheidung" untersucht der iranische Regisseur Vahid Jalilvand die Folgen eines Verkehrsunfalls und analysiert zugleich sein Land.

Von Tobias Kniebe

Ein Unfall ist passiert im nächtlichen Teheran. Ein Auto wurde abgedrängt und hat ein Mofa gerammt, auf dem eine ganze Familie saß. Der Vater, die Mutter, ein Baby und ein achtjähriger Junge sind zu Boden gegangen, aber mit dem Schrecken davongekommen. Der Junge hat nur eine Beule am Hinterkopf.

Im Folgenden betont der iranische Regisseur Vahid Jalilvand in seinem Film "Eine moralische Entscheidung", wie zivil sich alle Beteiligten verhalten. Der Vater (Navid Mohammadzadeh) schimpft zwar und will erst die Polizei rufen, aber dann repariert er sein Mofa gleich selbst, und vom angebotenen Entschädigungsgeld nimmt er nur vorsichtig zwei Scheine.

Der Verursacher des Unfalls, der Gerichtsmediziner Dr. Nariman (Amir Agha'ee) nutzt sein berufliches Wissen, um den Jungen gründlich zu untersuchen und beruhigend mit ihm zu reden - so erfährt er auch dessen Namen, Amir. Bei der Frage nach der Polizei wiegelt der Doktor zwar heftig ab, aber er will die Familie zur Untersuchung ins Krankenhaus zu bringen. Davon lässt er erst ab, als der Vater versichert, selbst dorthin zu fahren.

Man ahnt schon, dass das alles ein Nachspiel haben wird, zunächst aber rückt der Film den Doktor in den Mittelpunkt. Er ist etwa 50 Jahre alt, sein Kinnbart ist akkurat gestutzt, er nimmt sich selbst und seine Arbeit sehr ernst, und er ist nicht wirklich ein angenehmer Mensch: Wer seine Autorität oder sein Bedürfnis infrage stellt, bei seinen wichtigen Aufgaben nicht gestört zu werden, wird barsch zurechtgewiesen. Recht kühl ist auch sein Umgang mit seiner Arztkollegin Dr. Behbahani, die möglicherweise seine Lebensgefährtin ist, aber genau weiß man es nicht, weil auch sie vor allem eine Aura nüchterner Kompetenz verbreitet. Respekt und Status ist alles in dieser Welt, wehe, wenn man ihn erst einfordern muss. Bei Fehlern von anderen versteht Dr. Nariman keinen Spaß - eigenes Versagen ist gar nicht erst vorgesehen. In früheren Zeiten hätte man ihn mit dem schönen alten Wort "ehrpusselig" bedacht, das eigentlich mal eine Renaissance erleben könnte, weil es irgendwie ja sogar die Pussy aus dem Straßenslang anklingen lässt, die Mimose, die niemand sein will.

Warum insistiert dieser Protagonist so verbissen auf seiner Verantwortung?

All das gerät nun aber ins Wanken, als er zwei Tage später den Namen des achtjährigen Amir wieder hört - auf der Liste der Toten in der Leichenhalle seines Krankenhauses. Die Kollegin macht eine Obduktion, um die Todesursache festzustellen, und Dr. Nariman durchlebt ein paar qualvolle Stunden. Er traut sich nicht, ihr die ganze Vorgeschichte zu erzählen, sein besonderes Interesse an dieser Obduktion wirft aber in der Klinik bereits Fragen auf.

Es ist schon immer wieder meisterhaft, wie die iranischen Regisseure es verstehen, langsam und äußerst realistisch die dramaturgischen Schrauben anzuziehen, bis ihre Figuren in einem existenziellen Dilemma feststecken. Der Großmeister in dieser Art des Spannungsaufbaus ist Asghar Farhadi, der zweifache Oscargewinner für "Nader und Simin" und "The Salesman". Sein Landsmann Vahid Jalilvand ist international noch nicht so bekannt, weil er jahrzehntelang fürs iranische Staatsfernsehen gearbeitet hat, aber seit 2015 widmet er sich nun ebenfalls dem Kino. Dabei hat er alles gelernt, was man von Farhadi lernen kann, und mit "Eine moralische Entscheidung" hat er 2017 dann auch schon den "Orizzonti"-Regiepreis von Venedig gewonnen. Der Vorteil dieses Kinos ist, dass es tiefe Strömungen in der iranischen Gesellschaft offenlegen kann, ohne explizit den Raum des Politischen zu betreten, der in Iran nach wie vor gefährlich ist. Etwa für Filmemacherkollegen wie Jafar Panahi.

Zurück in der Gerichtsmedizin: Der Obduktionsbericht bringt für Dr. Nariman eine ziemlich unzweideutige Entlastung: Der Junge hatte verdorbenes Fleisch gegessen, das Gift wird in seinem Körper nachgewiesen, andere Verletzungen konnten nicht festgestellt werden.

Die Aussicht, am Ende doch nicht verantwortlich zu sein, würde nun so ziemlich jeden halbwegs moralischen Menschen mit Glück erfüllen - und in diesem pragmatischen Sinn argumentiert dann auch die Freundin und Kollegin, als Dr. Nariman ihr die ganze Geschichte anvertraut. Ihn aber treibt die Vorstellung um, dass alle nur wieder zu schlampig waren, dass bei dem Jungen womöglich ein versteckter Genickbruch übersehen wurde, und dass er schlussendlich doch die alleinige Verantwortung für den Todesfall tragen muss. Aber nicht nur dafür. Der Vater des Kindes wird nun seinerseits von Schuld zerfressen, weil er auf dem Schlachthof besonders billige Hühner gekauft hat, die ihm noch als essbar aufgeschwatzt wurden. All das wird in beinahe farblosen Bildern erzählt, in einer Welt aus Grau und Ocker und Staub.

Die Verzweiflung dieses einfachen Mannes, der sich besseres Fleisch für seine Familie nicht leisten kann, spielt Navid Mohammadzadeh besonders eindrücklich, dafür bekam er in Venedig auch einen Darstellerpreis. Er stellt den Schurken zur Rede, der aus dem Gammelfleisch gegen alle Regeln noch Profit geschlagen hat, es kommt zum Handgemenge und zu einem schweren Sturz. Bald gibt es einen weiteren Toten zu beklagen. Der Schlachthofmitarbeiter erliegt seinen Verletzungen, die Verkettung der Schuld geht weiter.

Dr. Nariman aber insistiert immer verbissener auf seiner eigenen Verantwortung, bis hin zur Exhumierung der Leiche. Will er den anderen Mann damit entlasten, eine untragbare Bürde auf sich nehmen? Oder steckt dahinter noch etwas anderes? Der Filmemacher Vahid Jalilvand lässt am Ende vieles offen, gerade deshalb bieten sich reiche Lesarten an: Dies könnte das Porträt eines großen Moralisten sein, aber auch die Studie eines großen Narzissten; und zugleich die Analyse eines ganzen Gesellschaftssystems - des moralistisch-narzisstischen Patriarchats.

Bedoone Tarikh, Bedoone Emza , Iran 2017 - Regie: Vahid Jalilvand. Buch: Jalilvand, Ali Zarnegar. Kamera: Morteza Poursamadi, Payman Shadmanfar. Mit Navid Mohammadzadeh, Amir Aghaee, Hediyeh Tehrani. Farbfilm, 104 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 19.06.2019
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