Interview zur Zukunft des Journalismus (8):"Eine phantastische Chance"

Qualitätssteigerung statt Kosteneinsparung: Philip Meyer, Zeitungswissenschaftler und Autor, erklärt, warum er dem wachsenden Online-Journalismus wohlwollend gegenüber steht.

Interview: Leif Kramp und Stephan Weichert

"Zeitenwechsel" - eine neue Serie zur Zukunft des Journalismus geht Trends in der Presse und im Internet nach. Zusammen mit dem Berliner Institut für Medien- und Kommunikationspolitik bereitet sueddeutsche.de Interviews mit namhaften Experten auf. Alle Interviews sind unter sueddeutsche.de/zeitenwechsel abrufbar.

sueddeutsche.de: Herr Meyer, Sie haben einigen Zeitungsleuten durch Ihren Branchen-Bestseller "The Vanishing Newspaper" ("Die verschwindende Zeitung") einen gehörigen Schrecken eingejagt. Darin schreiben Sie, dass um das Jahr 2040 herum die letzte Zeitung von der Druckwalze läuft. Gibt es einen Grund, warum wir heute überhaupt noch gedruckte Zeitungen brauchen?

Meyer: Es ist doch ganz offensichtlich, dass wir sie für den Übergang ins digitale Zeitalter benötigen. Aber wenn wir mal ganz weit in die Zukunft blicken, kann ich mir durchaus elektronische Produkte vorstellen, die tatsächlich so aussehen und sich anfühlen werden wie die traditionelle Zeitung. Denn wenn ein tägliches Nachrichtenprodukt, das verständlich und unterhaltend ist, auf diese Weise vertrieben werden kann, dann haben wir doch immer noch unsere Zeitungen - mit dem einzigen Unterschied, dass diese nicht mit Druckerschwärze auf Papier bedruckt sind!

sueddeutsche.de: Wie viel Zeit bleibt dann der klassischen Zeitung auf Papier überhaupt noch, und welche Titel werden Ihrer Ansicht nach überleben?

Meyer: Es werden nur diejenigen Zeitungen schaffen, denen es gelingt, ihren "good will" ins Web zu übertragen. Im Grunde ist das eine phantastische Chance für die gute alte Zeitung, denn das Internet ermöglicht es ihnen, die ganzen Kosten für Papier, Tinte und Transport zu umgehen, also Faktoren, die ihr Wachstum derzeit behindern. Diejenigen, die kapieren, wie man stattdessen diese Kosten, die üblicherweise ein Drittel der Gesamtkosten einer Zeitung ausmachen, in inhaltliche Qualität investiert, werden nicht nur überleben, sondern wachsen.

sueddeutsche.de: Bisher waren es ja vor allem die Zeitungen, die im Vergleich zu ihren Online-Ablegern weitaus mehr Ressourcen zur Verfügung hatten. Könnte sich das bald ändern?

Meyer: Das Problem der Verleger ist ein historisches: Ihre Monopolstellung in den meisten ihrer Verbreitungsgebiete hat es ihnen in den vergangenen Jahren ermöglicht, unnatürlich hohe Preise zu verlangen, was ihre Profiterwartungen dementsprechend in die Höhe getrieben hat. Das Internet hat diesen Monopolen jedoch ein Ende bereitet. Anstatt nach neuen Möglichkeiten für Investitionen zu suchen, versuchen die meisten Verleger jetzt, die Kosten zu drücken, was zu einem Qualitätsverfall und weniger Lesern führt - eine Todesspirale!

Lesen Sie auf der nächsten Seite weiter, wie es möglich wäre, den Qualitätsjournalismus zu erhalten.

"Eine phantastische Chance"

sueddeutsche.de: Shopping-Touren im Pressemarkt sind in den USA ja derzeit schwer in Mode. Sehen Sie durch solche Übernahmen à la Rupert Murdoch die Existenz der Qualitätspresse in Gefahr?

Meyer: Es kommt auf die Motive für die jeweilige Übernahme an. Einige Besitzer wollen nur Profite abernten, indem sie den letzten Cent aus dem Unternehmen herausquetschen, bevor es stirbt. Ich glaube nicht, das Rupert Murdoch zu dieser Sorte 'Squeezer' gehört. Tatsächlich war es ja die Bancroft-Familie selbst, die das Wall Street Journal qualitativ verkommen ließ, um kurzfristige Profite aus dem Verlag zu schlagen. Murdoch hat da wohl - trotz seines Alters - einen längeren Zeithorizont im Blick und wird meiner Ansicht nach eher in Qualität investieren, die letztlich immer noch das Erfolgsgeheimnis des Wall Street Journal ausmacht.

sueddeutsche.de: Könnten Sie sich vorstellen, dass Redakteure und Reporter bald vollständig in den Online-Journalismus übersiedeln, wie es Murdoch für die Beschäftigten des Wall Street Journal angekündigt hat?

Meyer: In nächster Zeit wird es deutlich mehr Bewegung in diese Richtung geben. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir auch weiterhin Zeitungen brauchen, in welcher Form und Frequenz auch immer, ganz einfach, weil sie haltbarer und portabler sind. Die Gratiszeitungen an U-Bahnhöfen belegen das ja auch: Sie decken offensichtlich einen Bedarf, den das Internet so nicht erfüllt - obwohl wir uns während der Bahnfahrt künftig noch viel mehr mit unseren iPhones beschäftigen werden. Die technologische Zukunft vorherzusagen, ist also sehr schwierig, wie schon Ithiel de Sola Pool zu Recht in seinem Buch "Forecasting the Telephone" bemerkte.

sueddeutsche.de: Welches Potential sehen Sie in Zeitungshybriden aus gedruckten und digitalen Inhalten?

Philip Meyer: Sie sind nicht nur möglich, sondern auch dringend notwendig. Niemand wird wissen, wie man es richtig macht, bis nicht viele verschiedene Versuche unternommen worden sind. Das war mit neuen Technologien schon immer so: Es gab 150 Automobilhersteller in den USA, bevor Henry Ford das Fließband erfand und später zum führenden Autobauer wurde.

sueddeutsche.de: Zurzeit planen ja zwei deutsche Verlagshäuser (Süddeutscher Verlag, WAZ-Gruppe) jeweils eine Internet-Kooperation mit den öffentlich-rechtlichen TV-Sendern ZDF und WDR. Sind solche Online-Strategien sinnvoll, um das Überleben von traditionellen Zeitungsverlagen zu sichern?

Meyer: Ja, natürlich. Oder um es mit den Worten des Verlegers der New York Times ausdrücken: "Wir müssen plattformagnostisch werden", sprich: Nachrichten zu produzieren, das ist unser Ding, wir sollten uns nicht von den Vertriebswegen beirren lassen. Internet und Rundfunk haben ja einen Riesenvorteil gegenüber Zeitungen, weil ihre Vertriebskosten fix sind. Bei Zeitungen sind die Kosten direkt an die Auflage gekoppelt, was ihrem Wachstum natürliche Grenzen setzt. Wenn Zeitungen elektronisch vertrieben würden, könnten sie mehr Geld in die Recherche stecken.

sueddeutsche.de: Auch wenn das schwer zu prognostizieren ist: Sehen Sie irgendeine Chance, den Qualitätsjournalismus im Zeitalter der Informationsverschleuderung zu erhalten?

Meyer: Das hängt von den Arbeitern ab und nicht von den Typen in den Anzügen. Wir müssen uns als Berufsgruppe organisieren und uns auf Leistungsstandards verständigen, die uns den Respekt des Publikums einbringen. Diese Idee stößt natürlich auf heftigen Widerstand - was aber nicht anders zu erwarten ist von einer Branche, die es so lange so leicht gehabt hat. Da aber die Situation immer schlechter wird, gehe ich davon aus, dass auch der Widerstand schwindet.

sueddeutsche.de: Stellen nutzergenerierte Inhalte eine ernsthafte Konkurrenz für den professionellen Journalismus dar?

Meyer: Wenn sie mit dem Journalismus konkurrieren wollen, müssen sich diejenigen, die nutzergenerierte Inhalte anbieten, so organisieren, dass sie eine Ausbildung bekommen, sich professionelle Standards setzen und ihre Peers an die moralischen Standards des Journalismus gewöhnen. Nutzerbeteiligung ist eine mächtige Kraft, und muss - wie jede andere mächtige Kraft auch - auf eine Weise gesteuert werden, die sie sicher und vertrauenswürdig macht.

sueddeutsche.de: Was halten sie von privatfinanzierten Initiativen wie Pro Publica oder dem Center for Investigative Reporting, die sich der Stärkung des Qualitätsjournalismus verschrieben haben?

Meyer: Es ist noch viel zu früh, um sagen zu können, ob Pro Publica seine Ziele erreichen kann. Aber das Center for Investigative Reporting macht seine Arbeit bisweilen sehr gut und hat schon eine ganze Reihe wichtiger Preise für investigativen Journalismus gewonnen. Auch vom Center for Responsive Politics, die führende Informationsquelle zur Finanzierung von politischen Kampagnen, halte ich viel.

sueddeutsche.de: Werden auch staatliche Subventionen oder Stiftungsgelder zur Unterstützung der Qualitätspresse früher oder später notwendig?

Meyer: Zurzeit erleben wir, wie der von Stiftungen unterstützte Journalismus in den USA wächst. Und ich erwarte, dass es noch mehr wird, um die Lücke der dahinsiechenden Zeitungen zu schließen. Staatliche Förderung halte ich demgegenüber für gefährlich, auch wenn es bisher für mich nicht so aussieht, dass diese bislang den öffentlichen Rundfunk korrumpiert hätte. Ich bin aber der Überzeugung, dass Privatunternehmen auf lange Sicht weiterhin profitable Wege finden werden, wenn sie Wahrheiten aufdecken und vermitteln.

Philip Meyer, geboren 1930 in Deshler (Nebraska), ist Professor für Journalismus und begann seine Zeitungskarriere 1944. Sein Urgroßvater war ein deutschsprachiger Einwanderer aus der Schweiz, der 1870 eine Farm in Nordkansas unter dem "Homestead Act" von Präsident Lincoln aufbaute. Nach seinem Abschluss an der Kansas State University, diente er in der Navy und arbeitete er für den Topeka Daily Capital, danach absolvierte er ein Masterstudium in Politikwissenschaft an der University of North Carolina in Chapel Hill. Meyer kann auf eine 23-jährige Karriere bei dem ehemaligen US-Zeitungsgiganten Knight Ridder (heute: McClatchy Company) zurückblicken, u. a. als Reporter, Washington-Korrespondent und Leiter der Nachrichtenforschung des Miami Herald. Seit 1981 hat er noch bis Ende 2008 den von der Knight Stiftung finanzierten Lehrstuhl für Journalismus an der University of North Carolina inne. Meyer hat zahlreiche Bücher verfasst, u.a. "The Vanishing Newspaper" (2004), "Precision Journalism" (4. Ausgabe, 2002) und "The Newspaper Survival Book" (1985). 2000 verlieh ihm die American Association for Public Opinion Research ihre höchste Ehre: den AAPOR Award für besondere Leistungen.

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