Interview über Städte und Integration:"Die Stadt ist viel inklusiver als der Nationalstaat"

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Zwei Impressionen aus Frankfurt am Main: Im Vordergrund - ein Graffiti von Oguz Senund Justus Becker. Es zeigt ein Bild des bei seiner Flucht ertrunkenen Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi. Im Hintergund - Stau, der von der Europäischen Zentralbank weg führt. (Foto: dpa(2); photocase; Bearbeitung SZ)

Die Stadt, in der man lebt, beeinflusst vehement, wie man die Welt sieht - vom Stau über die Öffnungszeiten von Friseuren bis hin zur Integration von neuen Menschen. Eine Soziologin erklärt, warum.

Interview von Hannah Beitzer

Städte besitzen eine eigene Logik und entfalten eine eigene Wirkung auf diejenigen, die sich darin heimisch fühlen, sagt die Berliner Soziologin Martina Löw. Wie aber wird ein Neuankömmling Teil einer urbanen Gemeinschaft?

SZ: Die Menschen sind so mobil wie nie, die Digitalisierung eröffnet einen neuen, virtuellen Raum - wie wichtig ist der Ort, an dem wir leben?

Martina Löw: Meine Hypothese ist, dass Orte wichtiger werden. Solange jeder einen festen Heimatort imaginierte, schienen uns Orte selbstverständlich zu sein. Heute leben wir in mehreren Räumen, digitalen wie realen. Viele Menschen identifizieren sich eher mit einer Stadt als mit einer Nation, insbesondere wenn die Befragten eine Migrationsgeschichte haben. Sie sagen dann leicht "Klar bin ich Berliner!". Aber bei der Frage, ob sie auch Deutsche sind oder doch Türken oder Polen wird es schwieriger. Die Stadt ist viel inklusiver als der Nationalstaat.

Gleichzeitig haben viele Menschen das Gefühl, dass in ihrer Stadt bald kein Platz mehr für sie ist. Selbst in reichen Vierteln von München gibt es inzwischen Anti-Gentrifizierungsprotest.

Der Widerstand gegen Gentrifizierung hat direkt mit der gestiegenen Bedeutung der Städte für die Selbstverortung der Menschen zu tun. Die Leute engagieren sich stärker für ihre Stadt. Dabei ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass es Gentrifizierungsproteste auch in reichen Vierteln gibt, wo die Bewohner vielleicht gar nicht selbst von Verdrängung betroffen sind. Städter wollen für gewöhnlich nicht in homogenen Verhältnissen leben, sie schätzen heterogene Einflüsse. Und die sehen sie bedroht.

Eine häufige Klage lautet: Städte werden einander immer ähnlicher, überall dieselbe Architektur, dieselben Geschäfte . Ist die Heterogenität von Städten in Gefahr?

Es stimmt, dass sich in Städten einiges angleicht. Flughäfen zum Beispiel, Bahnhöfe oder auch Fußgängerzonen. Gleichzeitig erleben wir Städte im Alltag sehr unterschiedlich. Wir wissen sofort, ob wir uns in Paderborn oder in Dresden aufhalten. Die Städte versuchen, diese Unterschiede zu betonen. Gerade, um sich in einer globalisierten Welt von anderen zu unterscheiden. Städte haben eine Eigenlogik - und die hat Konsequenzen für unser Handeln.

Wie muss man sich das vorstellen?

Wir haben in unserer Forschung zur Eigenlogik zum Beispiel Frankfurt am Main und Dortmund untersucht. Die Städte sind ähnlich groß, und viele ökonomische Faktoren sind ähnlich, zum Beispiel mussten beide Industrialisierungskrisen überwinden. Wir haben uns die Kriminalliteratur der Städte angesehen und die politischen Diskurse sowie wirtschaftliche Komponenten. Dabei sind wir auf das Gewerbe der Friseure gestoßen. Deren Dienstleistung ist klar umrissen und gut vergleichbar. Wir haben interessante Unterschiede ermittelt. Zum Beispiel finden die Friseure in Frankfurt es offenbar sinnvoll, sich in den Öffnungszeiten von ihren Konkurrenten zu unterscheiden, sich dadurch voneinander abzuheben. Die Dortmunder hingegen halten es für plausibler, sich abzusprechen und einheitliche Öffnungszeiten im Quartier anzubieten, um sich gegenseitig keine Konkurrenz zu machen.

Und was sagt das über die Eigenlogik von Frankfurt und Dortmund?

In Dortmund gibt es eine stärkere Orientierung am Gemeinschaftssinn, in Frankfurt am Ausdifferenzieren von Handlungen. Außerdem werden in Dortmund Dinge, die in der Vergangenheit gut funktioniert haben, nicht verändert. In Frankfurt hingegen ist die Vergangenheit nicht der wichtigste Bezugspunkt, die Menschen dort wollen einen Schritt weiter in der Zukunft sein.

Martina Löw, geboren 1965 in Würzburg, lehrt Stadtsoziologie an der TU Berlin. Zuletzt erschien von ihr das Buch "Prostitution. Herstellungsweisen einer anderen Welt". (Foto: Michael Pasternack/oh)

Wie zeigt sich das im Zusammenleben?

In Frankfurt nimmt man Probleme eher als eigene Probleme an und versucht, sie zu gestalten. Beim Thema Stau beispielsweise sagen die Frankfurter: Wir sind als Stadt so attraktiv, dass Leute aus dem Umland zu uns kommen - damit müssen wir umgehen. Die Dortmunder betrachten den Pendlerstau viel stärker als Problem, das von außen an sie herangetragen wird.

Betrifft die innere Logik von Städten auch Neuankömmlinge?

Es gibt interessante Studien über Zuwanderer aus der Türkei, die sich in unterschiedlichen deutschen Städten ansiedelten. Diese Menschen entwickeln ganz unterschiedliche Routinen, je nachdem, wie Städte mit Migration umgehen: Legen sie eine Konzentration von Zuwanderern in bestimmten Vierteln nahe? Oder wollen sie die Neuankömmlinge über die ganze Stadt verteilen? Aber es geht auch um Fragen der Identität. Mannheim etwa ist eine Stadt mit hoher Integrationskraft - die sich aber in der Vergangenheit so gut wie keine Gedanken über die Frage machte: Welche Rolle will die Stadt in der Welt übernehmen? Der innere Zusammenhalt ist wichtiger als das Bild nach außen. In so einer Stadt rücken Zuwanderer viel selbstverständlicher in die Position, dass sie Verantwortung für ihre Stadt übernehmen. Dabei hilft auch eine sehr klare Vorstellung, was den typischen Mannheimer ausmacht.

In Frankfurt steht ständig die Frage im Raum: Was stellt die Stadt in der Welt dar? Zuwanderer stehen für die Vernetzung in die Welt. Was ein Frankfurter ist, wird offengelassen. Der Zuwanderer bleibt Fremder in Frankfurt, man kann auch sagen, er darf Fremder bleiben.

Lässt sich das Selbstbild einer Stadt auch bewusst formen?

Geschichten und Bilder einer Stadt spielen eine große Rolle für deren Eigenlogik. Es ist immer spannend anzusehen, wann bestimmte Legenden, Mythen, Erzählungen entstanden sind. Oft ist es so, dass wir denken: Das wird hier schon Jahrhunderte erzählt. Dabei ist es erst im vorigen Jahrhundert entstanden. Das barocke Dresden zum Beispiel wurde mit dieser Durchdringungskraft erst nach der Wende neu erfunden. Häufig entstehen solche Erzählungen in einem Konflikt. Sie werden dafür eingesetzt, bestimmte Handlungen zu legitimieren, Traditionen zu konstruieren - häufig geschieht das sogar unbewusst. Sie sind deswegen perfekte Quellen, um sich mit der Eigenlogik von Städten zu beschäftigen.

© SZ vom 07.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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