Interview:"Ostkinder sind sozialer"

Sie findet MTV blöd - und moderiert trotzdem dort. Sie ist eine umjubelte Schauspielerin - und fährt Mamas Auto. Ein Gespräch mit der wirklich, wirklich tollen Schauspielerin und Moderatorin Nora Tschirner.

von Rebecca Casati

Nora Tschirner wurde am 12.Juni 1981 in Ostberlin geboren. Bereits während ihrer Schulzeit spielte sie in dem Film "Wie Feuer und Flamme" mit - und zwar ausgerechnet ein Westmädchen. Nach dem Abitur wurde die ARD auf sie aufmerksam: In der Vorabend-Serie "Sternenfänger" (2002) übernahm sie die Rolle der melancholischen Paula. Zur selben Zeit überredete eine Künstleragentin sie zu einem Casting für MTV. Parallel zu ihrer Fernseharbeit spielte Tschirner in "Soloalbum" (2004) ihre erste Kinohauptrolle. Dieser Tage ist sie als Co-Moderation von Christian Ulmen in der MTV-Sendung "Ulmens Auftrag" zu sehen. Am 21.April läuft ihre neue Komödie "Kebab Connection" an. Außerdem hat sie in Kanada ein ARD-Historiendrama abgedreht und moderiert auf Radio Fritz die Sendung "Bluemoon".

Interview: Einfach schön und schön einfach: Nora Tschirner.

Einfach schön und schön einfach: Nora Tschirner.

(Foto: Foto: dpa)

SZ: Sie waren ein Kind, acht Jahre alt, als die Mauer fiel. Erinnern Sie sich daran, wie dieser Ort hier, der Hackesche Markt, zu DDR-Zeiten aussah?

Tschirner: Nein, kaum. Wir wohnten in Pankow. Ich erinnere mich an meine Familie, Freunde meiner Eltern. Schöne Kinderplatten. Kakao trinken und mit meinen Freunden diese Platten hören.

SZ: Das klingt alles sehr behaglich.

Tschirner: Auf jeden Fall. Mit acht hatte man ja noch keine politischen Widerspruchsgeist. Der wäre bei mir vielleicht später erwacht.

SZ: Besuchen Sie manchmal Ihr Elternhaus?

Tschirner: Besuchen ist gut. Ich habe dort bis vor einem Jahr gelebt.

SZ: Bei Ihrer Familie?

Tschirner: Nein. Mama, Papa, Brüder, alle haben sich aufgeteilt und sind nach und nach weggezogen. Ich blieb übrig und wohnte irgendwann allein in unserer Wohnung.

SZ: Warum das denn? War das denn nicht sehr bedrückend?

Tschirner: Überhaupt nicht. Sie war schön, diese Wohnung, 120 Quadratmeter, 600 Euro warm, mit Parkett und Stuck, genau gegenüber von einem Park. Das ist bei Ostfreunden von uns auch gar nicht unüblich, die Eltern wollten etwas Neues für ihr Leben, und die Kinder hatten dadurch die Möglichkeit, zu günstigen Konditionen weiter in diesen wunderbaren Altbauwohnungen zu wohnen. Außerdem dachte ich immer, es würde vielleicht hart werden, von dort den Absprung zu schaffen.

SZ: Die Freunde Ihrer Eltern: Gibt es welche, die nach der Wende nicht mehr Fuß fassen konnten?

Tschirner: Ja, bestimmt. Viele hat es richtig schlimm erwischt, andere schrecken ständig nachts hoch mit dem Gedanken: Wie geht's weiter? Was ich da höre, betrübt mich, dann kommen in mir Sicherheitsgedanken hoch wie: Wenn ich jetzt ganz, ganz viel Geld verdienen würde, könnte ich meine ganze Familie ernähren, auch wenn sie alle mit einem Schlag arbeitslos würden.

SZ: Ihr Vater ist der Dokumentarfilmer Joachim Tschirner.

Tschirner: Ja, einer seiner Filme lief schon 17-mal im Fernsehen.

SZ: Wovon handelt der?

Tschirner: Vom Aralsee. Im Prinzip die größte, von Menschen verursachte Umweltkatastrophe, was aber kaum jemandem bekannt ist. Die Russen kamen in den siebziger Jahren auf die kuriose Idee, dort Reis und Baumwolle anzubauen, Produkte, die viel Wasser brauchen. Dazu haben sie große Flüsse angezapft, nichts richtig abgedichtet, woraufhin die Flüsse versalzt oder ausgetrocknet sind, was wiederum das Weltklima beeinflusst, 40 Prozent der Kinder dort werden mit geschlossener Fontanelle geboren . . .

SZ: Ein Dokumentarfilm wie dieser beispielsweise wäre doch unter dem DDR-Regime undenkbar gewesen.

Tschirner: Im Westen übrigens auch. Sonst wäre dieser Film schon viel früher gemacht worden. Ihm wurden damals schon Steine in den Weg gelegt, aber er hat letztlich immer seine Sachen realisiert. Er stand der DDR nicht insofern kritisch gegenüber, dass er den Staat abschaffen wollte. Er wollte viel ändern, aber eher aus dem System heraus.

SZ: Die Würde - wurde die in Ihrer Familie nach der Wende auf die Probe gestellt?

"Ostkinder sind sozialer"

Tschirner: Schon. Mein Vater ist seit 15 Jahren dabei, für seine Firma zu kämpfen und sie umzustrukturieren. Meine Mutter musste sich auch neu orientieren, trotzdem gehörten meine Eltern nie zu denen, die jammern. Wir wissen alle, dass da nicht zwei Staaten gleichberechtigt zusammengewachsen sind, einer davon wurde außer Kraft gesetzt und komplett vergessen. Was in vielen Punkten wichtig war. Aber man hätte überlegen können, ob es nicht noch Potential in der DDR gab, und ob man nicht mehr davon hätte übernehmen können - außer den Ampelmännchen.

SZ: Zum Beispiel?

Tschirner: Träume, Ideale, politische Gegenmodelle. Es klingt vielleicht sehr hart, aber ich habe immer relativ schnell erkennen können, ob jemand in meinem Alter aus dem Osten oder aus dem Westen kommt. Ostkinder sind sozialer im Umgang.

SZ: Heißt das, sie hauen sich weniger oder hören besser zu?

Tschirner: Sie sind verbindlicher. Weil man im Osten immer aufeinander angewiesen war. Sie finden, das klingt naiv, oder? Ich hatte eben eine wunderschöne Kindheit.

SZ: Wie kamen Sie darauf, ausgerechnet bei MTV anzuheuern?

Tschirner: Ich habe ja nie angeheuert. Ich war dem Sender gegenüber sogar eher misstrauisch, weil ich vieles, was da lief, einfach nicht gut fand. Ich war eigentlich auf dem Weg zur Schauspielerei, hatte meinen ersten Kinofilm gedreht und arbeitete in einem Einrichtungsladen. Dann kam das Angebot für die ARD-Serie "Sternenfänger". Und dann kam MTV mit dem Angebot, dass ich dort mal vorbeischauen könnte.

SZ: Sie haben dann unter anderem die Charts moderiert. Ein Zitat von Ihnen lautet: Ich arbeite bei einem Sender, in dem der größte Mist gehypt wird.

Tschirner: Das ist ja auf manchen Gebieten tatsächlich auch der Fall.

SZ: Haben Sie sich mit Ihren Ansichten in der Redaktion beliebt gemacht?

Tschirner: Einerseits überhaupt nicht. Andererseits arbeiten da viele Menschen, die ähnlicher Ansicht sind, aber nicht in der Position, was zu sagen. Und ich bin dort eingestiegen mit einer Vereinbarung, die besagte: Komm vorbei, wenn du Zeit und Lust hast. Wir konnten uns noch nicht mal auf eine Stundenzahl einigen. Und diese Vereinbarung besteht seitdem, ich bin ziemlich frei, und sie respektieren, dass ich auch Schauspiel mache.

SZ: Noch ein Zitat von Ihnen: Nach ein paar Wochen MTV habe ich ein großes Bedürfnis nach Wissen, Lernen und Tiefe.

Tschirner: Letztlich sind es im Pop doch immer dieselben Geschichten. Die meisten Leute, über die man berichtet, sind Psychos, was sie sein müssen, weil man sonst ja nicht über sie berichten würde. Wenn ich viel über 50 Cent und Britney Spears geredet habe, kommt es mir vor, als sei ich in der Nähe von einer Art, ja, Gefahr. Einem Strudel.

SZ: Wahrscheinlich derselbe, den man fühlt, wenn man mal wieder zu lange ferngesehen hat.

Tschirner: Ich zahle zwar GEZ-Gebühren, aber ich habe nicht mal einen Fernseher.

SZ: Und trotzdem gibt es viele solche Strudel in Ihrem Alltag?

Tschirner: Ja! Und viele, die sich davon mitreißen lassen. Die setzen sich irgendwann nur noch mit Phantasiegebilden auseinander. Mit Jessica Simpsons Fingernagelfarbe. Nichts gegen Leute, die ihr Leben lang von Popstars träumen. Viel schlimmer ist es, Popstar zu sein und zu merken, dass es nicht ausfüllt. So wie Mariah Carey. Die ist nun wirklich ernsthaft verrückt geworden darüber. Aber - man darf doch nicht seinen Lebenstraum unter diesem Vakuum begraben. Die, die das getan haben, werden zynisch. Ich war schockiert, dass auch bei MTV ein paar so Leute sitzen.

SZ: Wie in anderen Unternehmen auch.

Tschirner: Nur dass man in einem Unternehmen wie Siemens nicht so viel Vorbildfunktion hat.

SZ: Immerhin lässt man Sie bei MTV so reden.

Tschirner: Weil eben auch gute Leute da sind. Ich habe dort Freunde gefunden.

SZ: Wie wird man bei einem Musiksender mit Würde erwachsen?

Tschirner: Mit Ehrlichkeit. Siehe Markus Kavka oder Anastasia, beide über 30 und total würdevoll - weil sie das machen, was sie wirklich wollen und nicht insgeheim lieber "Spiegel TV" moderieren würden. Meine Mama, die Kulturredakteurin beim Radio ist, ist da mein Vorbild. Seit ich denken kann, ist meine Mutter mit einem Lächeln zur Arbeit gegangen. Ich will später zurückgucken auf mein Leben und genauso lächeln.

SZ: Sie machen nicht wirklich viele Filme.

Tschirner: Pro Jahr nur etwa einen. Hochtrabende Charakterrollen werden mir noch nicht ständig angeboten, ich war nicht auf der Schauspielschule und muss mir alles praktisch erarbeiten. Ich suche sie also so aus, dass ich viel lernen kann dabei. Das Privileg habe ich, weil ich meine Miete über andere Sachen reinkriege.

SZ: Sie sind nämlich nicht nur Moderatorin, Film- und Fernsehschauspielerin.

Tschirner: Ich bin Darstellerin im Lernprozess!

SZ: Sie haben auch eine Radiosendung und waren erfolgreich am Theater. Der "Spiegel"-Kritiker nannte Ihr Debüt am Hamburger Schauspielhaus in "Trainspotting" glänzend, Sie selbst sogar noch "leicht unterfordert".

Tschirner: Und einer vom Stern hat geschrieben, dass die Entscheidung, mich zu besetzen, nachvollziehbar, fragwürdig und goldrichtig war. Nachvollziehbar, weil ich eine Medienfresse habe. Fragwürdig, weil ich manchmal in Babysprache moderiere. Und goldrichtig, weil er das Stück gesehen hatte und fand, dass ich Talent habe. So differenzierte, tolle Kritiken - was habe ich mich gefreut!

SZ: Sie lesen außerdem...

Tschirner: FHM, Gala und Bunte finde ich zugegebenermaßen unterhaltsam.

SZ: Alles Magazine, in denen Sie genau nicht vorkommen.

Tschirner: Stimmt, ich bin nicht auf deren Radar, und ich versuche es auch nicht zu forcieren. Ich kann verstehen, dass die Redakteure, die einen portraitieren, wenn alles gut läuft, auch gerne dabei sein würden, wenn man sich gerade trennt oder es einem schlecht geht. Das ist gerecht. Aber ich will eine überschaubare Anzahl Leute in meinem Leben schützen, vor mir, vor meinem öffentlichen Beruf. Und wenn das bedeutet, dass ich nicht in vielen Zeitungen stattfinde, nehme ich es gerne in Kauf.

SZ: Sie beantworten keine Fanbriefe.

Tschirner: Und ich stelle mich auch nicht hin und sage: Ich liebe euch, Leute! Wie gesagt, ich bin nicht dafür, einen Hype zu nähren. Ich schicke Autogramme raus, was ich schon komisch genug finde. Und ich gehe auch mal auf einer Feier vorbei, um Leuten eine Freude zu machen. Aber wenn ich schon eine Projektionsfläche bin, möchte ich wenigstens keine große sein. Wenn jemand zitternd auf mich zukommt, tue ich alles dafür, dass er nach drei Minuten entspannt wieder weggeht und nicht denkt: Oh, ist die toll, sondern: Die ist ja normal.

SZ: Sind Sie viel selbstbewusster als Ihre Freunde?

Tschirner: Sorgenfreier. Als junger Mensch gerät man heute leicht in eine Mühle, an einen Punkt, an dem man sich nicht mehr klarmachen kann, dass es auch anders geht, an dem man sich Angst machen lässt vor dem Leben. Wir zittern heute alle mit 23 vor der Vorstellung, dass wir ein Kind kriegen könnten, früher galt 23 schon als spätgebärend. Ich bin dank meiner Herkunft mit Urvertrauen ausgestattet. Ich hatte Eltern, die sich beruflich verwirklichen konnten, weil sie diese Existenzangst-Schere im Kopf nicht hatten, und das gab mir natürlich als Kind eine Idee vom Leben. Das hat mich geprägt, davon habe ich profitiert. Ich habe heute nicht ohne Ende Kohle, aber ich hab überall einen Fuß in der Tür. Das gibt mir das Privileg, relativ sorgenfrei zu sein.

SZ: In Ihrer neuen Kinorolle, in der von Fatih Akin geschriebenen Komödie "Kebab Connection", spielen Sie ein deutsches Mädchen, das von einem jungen türkischen Regisseur schwanger wird - zum Verdruss eigentlich aller. Sie setzen den werdenden Vater vor die Tür, als er sich zu dumm anstellt. Sie wirken in dieser Rolle sehr würdevoll.

Tschirner: Das ist schön, dass Sie das sagen.

SZ: Um nicht zu sagen: sehr streng.

Tschirner: Ja!

SZ: Als Mann hätte ich auch ein bisschen Angst vor Ihnen.

Tschirner: Mir hat gerade gefallen, dass sie keine blöde, liebe Tussi ist. Immerhin hat sie ein Kind im Bauch, während der Vater nur Kung-Fu-Filme im Kopf hat.

SZ: Ihre Erfahrungen mit Türken?

Tschirner: Wenige. Ich wohne immer noch in Pankow, was nahe an Wedding ist und deshalb nahe an den türkischen Berlinern. Aber als ich noch zur Schule ging, mischte es sich noch nicht, das fängt jetzt erst langsam an. Irgendwann wird Berlin dann sein richtiges, multikulturelles Gesicht haben.

SZ: Der Film erscheint kurz nachdem in Berlin eine junge Türkin offenbar von ihren Brüdern erschossen wurde.

Tschirner: Ich weiß. Diese so genannten Ehrenmorde. Es ist furchtbar, aber das sind nicht in erster Linie Türken, sondern einzelne Psychopathen. Ich hatte schon Journalisten, die mich allen Ernstes gefragt haben, ob das jetzt nicht ein Symbol sei. Das macht mir Angst! Viel häufiger lesen wir doch über Spandauer Familienväter, die ihre ganze Familie abknallen!

SZ: All dies bespricht man eben so mit Ihnen.

Tschirner: Ja.

SZ: Obwohl Sie selbst erst 23 sind.

Tschirner: Auch das macht mir manchmal Angst. Andererseits konnte ich auch mehr Erfahrungen sammeln als viele Altersgenossen, die in irgendwelchen Abläufen gefangen sind. Ich habe kurze, intensive Projekte - und dann wieder viel Zeit. Was unnormal ist. Eine 23-Jährige von heute hat, wenn es gut läuft, eher wenig Zeit.

SZ: Fühlen Sie sich sehr erwachsen?

Tschirner: Frage ich mich selten, aber ein Kind bin ich jedenfalls nicht mehr. Ich kriege sogar schon Ältere-Dame-Anwandlungen. Wenn ich durch Wedding fahre, erschrecke ich mich manchmal über Jugendliche auf der Straße, weil ich ihre Verhaltensweisen überhaupt nicht mehr nachvollziehen kann.

SZ: Was tun die denn?

Tschirner: Na, wie die da so stehen, vor irgendwelchen Läden, an irgendwelchen Brunnen, und dann hat der junge Mann mit dem sportlichen Haarschnitt so seine Freundin im Arm . . . vielleicht stehen die da erst seit eben, vielleicht schon seit zwei Stunden? Einfach so. Was tun die da bloß? Ist doch sonderbar alles.

SZ: Schnell noch eine Rentenversicherung abgeschlossen letztes Jahr?

Tschirner: Das Finanzielle, Vernünftige macht mein Vater für mich. Ich habe neulich auf seine Anregung hin überlegt, ob ich mir eine Familienkarosse kaufen und acht Jahre lang abbezahlen soll.

SZ: Und?

Tschirner: Wieder beiseite gelegt, den Gedanken. Acht Jahre! So erwachsen bin ich nun doch noch nicht. Ich bin jetzt wieder mit dem Auto meiner Mutter unterwegs.

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