Süddeutsche Zeitung

Interview mit Medienforscher Guido Zurstiege:Folgenlose Reue

Lesezeit: 2 min

In seinem neuen Buch "Taktiken der Entnetzung" beschreibt der Medienforscher Guido Zurstiege, wie die neuen Medien uns überwältigt haben. Aber wie sinnvoll ist es wirklich, sich der digitalen Vernetzung zu entziehen?

Von Interview von Cornelius Dieckmann

In seinem Buch "Taktiken der Entnetzung. Die Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter" (Suhrkamp Verlag, 297 Seiten, 18 Euro) beschreibt der Tübinger Medienforscher Guido Zurstiege, wie die neuen Medien uns überwältigt haben. "Früher galt: Wer 'Enteignet Springer' ruft, liest nicht die Bild-Zeitung! Wer heute gegen Facebook, Google, Amazon und Apple wettert, kann durchaus deren Stammkunde sein." Kritisieren und Teilnehmen - diese Haltung hat kleine Guerilla-Taktiken hervorgebracht, etwa den Tapestreifen über der Computer-Webcam. Zurstiege hört darin den "Stoßseufzer einer Gesellschaft", die die sozialen Medien ebenso braucht wie fürchtet.

SZ: Herr Zurstiege, warum sollten wir mehr über das Abschalten sprechen?

Guido Zurstiege: Ich schaue mit meinen Kindern öfter die Sendung "Löwenzahn", in der früher Peter Lustig die Hauptrolle spielte und am Ende immer sagte: "Jetzt kommt eh nichts mehr, also: abschalten!" Sein Nachfolger Fritz Fuchs verweist dagegen immer auf das Zusatzmaterial auf der Website. Zufall ist das nicht: Wir haben Kindern das Ende abgewöhnt.

Und sehnen uns gleichzeitig nach Möglichkeiten der Entnetzung wie dem "Recht auf Vergessenwerden" und dem "Recht auf Nichterreichbarkeit".

Ja, obwohl man beim "Recht auf Nichterreichbarkeit" nicht vergessen darf, dass wir uns dieses Recht oft selbst verweigern, nicht die Technologien. Wir könnten ja abends auch einfach mal keine Mails mehr checken. Gesetze oder Regelungen zur Nichterreichbarkeit nach Feierabend helfen da nur bedingt. Letztere richten sich sowieso vor allem an die Chefetage. Angestellte oder Selbständige können sich das seltener leisten.

Entnetzung ist also ein Privileg?

Jedenfalls steigen die Möglichkeiten der Entnetzung mit dem sozioökonomischen Status. Der kontrollierte Verzicht findet sicherlich zum Großteil in bildungsnahen Kreisen statt. In den USA gibt es gerade einen Techlash, große Reue darüber, was man selbst erschaffen hat. Genau diejenigen, die mal an der technologischen Spitze des Silicon Valley standen, schicken ihre Kinder auf Schulen, in denen bewusst analog gelernt wird.

Nimmt mit der Abhängigkeit von den digitalen Medien unser individuelles Freiheitsgefühl ab? Im Englischen werden ja auch Drogena bhängige User genannt.

Absolut, das Freiheitsgefühl nimmt ab, das lässt sich nicht von der Hand weisen. Die Strategien von Facebook, Apple und Twitter, das haben einschlägige Studien gezeigt, sind nach dem Vorbild einarmiger Banditen konzipiert. Sie verführen uns dazu, immer weiterspielen zu wollen. Die Soziologie denkt viel über die Mediatisierung großer Gesellschaftsbereiche nach, aber ich sehe eher eine situative Mediatisierung des Alltags. Die Trennschärfe zwischen, sagen wir, der Arbeit und dem Spielen mit den eigenen Kindern geht verloren, weil wir ständig vernetzt sein wollen.

Warum schreiben Sie, die sozialen Medien würden die "Affirmationslogik früher Stammeskulturen" zurückbringen?

Der Medientheoretiker Marshall McLuhan hatte die Hoffnung, dass elektronische Medien wie das Fernsehen einen stammesähnlichen Zusammenhalt auf globaler Ebene bewirken würden. McLuhan hat das Internet nie erlebt, aber in Bezug auf die Vernetzung mit unseresgleichen, mit unserem "Stamm", hat sich seine Hoffnung durchaus erfüllt.

Und die Kehrseite?

McLuhan hat nicht vorausgesehen, dass Menschen, seien es Impfgegner oder Identitäre, durch die tribalistische Vernetzung innerhalb von Gesinnungsgruppen argumentativ aufrüsten. Da wirken die sozialen Medien radikalisierend und zum Kampf aufstachelnd - auch ein Aspekt der Stammeskultur.

Haben Sie selbst eigentlich Ihre Laptop-Webcam abgeklebt?

Nein.

Warum nicht?

Vermutlich verdränge ich den Gedanken, dass ich auf diesem Wege ausspioniert werden könnte, obwohl ich weiß, dass es nicht allzu schwer wäre. Andererseits könnte auch jeder, der es wirklich will, meine E-Mails lesen oder mich am Telefon abhören. Ich habe überhaupt nichts gegen Taktiken des Entziehens, aber der Begriff "Taktik" weist ja schon darauf hin, dass das im Vergleich zur "Strategie" eher eine kleine Maßnahme ist. Letztendlich impliziert auch der Klebestreifen über der Webcam die Einsicht, dass wir uns bereits auf fremdem Territorium bewegen.

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Quelle:
SZ vom 21.12.2019
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