Interview mit Imre Kertész:Schande und Liebe in Zeiten der Diktatur

"Als Autobiograph wäre ich gescheitert": Ein Gespräch mit dem ungarischen Literaturnobelpreisträger Imre Kertész anlässlich seines neuen Buches "Dossier K. - Eine Ermittlung".

Franziska Augstein

Im Sommer 1944, mit vierzehn Jahren, wurde Imre Kertész wie die meisten ungarischen Juden deportiert, erst nach Auschwitz, dann nach Buchenwald. Zurück in Ungarn, verdiente er sein Geld als Autor von Musicals und Theaterstücken sowie als Übersetzer aus dem Deutschen. 1960 begann er die Arbeit an dem "Roman eines Schicksallosen", der 1973 erschien. 2002 erhielt Kertész den Literaturnobelpreis. Jetzt erscheint beim Rowohlt-Verlag sein jüngstes Werk: "Dossier K. - Eine Ermittlung".

Interview mit Imre Kertész: "Ich musste mich anpassen und durchzukommen." Imre Kertész, Jahrgang 1929.

"Ich musste mich anpassen und durchzukommen." Imre Kertész, Jahrgang 1929.

(Foto: Foto: afp)

SZ: Ihr neues Buch ist ein langes Gespräch, das Sie mit sich selbst geführt haben. Das ist amüsant: Endlich einmal ein Interview, bei dem der Fragesteller perfekt informiert ist! Haben Sie sich beim Schreiben in zwei Personen aufgespalten?

Imre Kertész: Nein, ich habe nichts dergleichen gemacht. Ich hatte keine Strategie und keinen Plan. Die zwei Figuren kamen zur Welt, während ich tippte. Ich habe nicht einen Moment lang darüber nachgedacht, was ich machen wollte.

SZ: Dies Gespräch zwischen Ihnen und Ihnen ist autobiografisch.

Kertész: Nein, es handelt zwar von mir, aber es ist nicht autobiografisch.

SZ: Was ist der Unterschied zwischen Fiktion und Autobiografie? Sie schreiben, im Roman "sind nicht die Tatsachen das Entscheidende, sondern allein das, was man den Tatsachen hinzufügt." Zwei Seiten später sagen Sie...

Kertész: Ich bin nicht konsequent.

SZ: ... das Entscheidende bei dem "Roman eines Schicksallosen" habe darin bestanden, Dinge wegzulassen. Das ist das Gegenteil und klingt viel plausibler.

Kertész: In diesem neuen Buch kommt es aber darauf an, was ich hinzufüge. Das Erlebte mit Worten darzustellen: Das hat immer zwei Seiten. Die Erinnerung ist vor allem stumm, sie besteht aus Bildern. Wenn man spricht, wählt man aus, die sprachliche Form ist nur eine der vielen Seiten dessen, was wir Wahrheit nennen. Gleichzeitig tun wir, indem wir für diese Bilder Worte finden, etwas hinzu. Jede schriftstellerische Arbeit ist eine Konstruktion. Die Sprache kommt hinzu, auch das Konzept, man kann theoretische oder wissenschaftliche Gedanken hinzufügen. Nein, wenn ich sagte, das neue Buch sei autobiografisch, dann müsste ich im selben Atemzug anfügen: das Vorhaben ist gescheitert.

SZ: So schwierig ist das autobiografische Schreiben?

Kertész: Nehmen wir einmal an, ich versuche, eine wahre Geschichte zu schreiben. Dann lese ich das hinterher durch und sage: das ist nicht gut. Was ist es aber, was nicht gut ist: Was ich erlebt habe? Was ich geschrieben habe? Oder der Zusammenhang zwischen den beiden? Dann arbeite ich weiter, als Manipulator, als Schriftsteller.

SZ: In Buchenwald waren Sie im Kleinen Lager, wo die Verhältnisse so schlimm waren, dass die SS-Leute sich am Ende aus Angst vor Seuchen nicht hineintrauten. Den Männern im Großen Lager, das intern von den Kommunisten geleitet wurde, ging es im Vergleich dazu besser. Hatten Sie irgendeinen Kontakt mit Leuten aus dem Großen Lager?

Kertész: Nein, nicht den geringsten. Aber als man mich halbtot vom Boden aufgelesen hat, wurde ich ins Große Lager gebracht.

SZ: Man hat Sie aus Mitleid gerettet.

Kertész: Nur aus Mitleid. Die Kommandos des Großen Lagers haben versucht, die Kinder zu retten.

SZ: Haben Sie sich nach Ihrer Rückkehr aus dem KZ irgendjemandem anvertraut?

Kertész: Nein, niemandem. Ich hätte auch nichts erzählen können. Es hätte mir nichts gegeben. Ich brauchte viele Jahre, bis ich mir darüber klar wurde, was mit mir passiert war. Manchmal hat diese Erfahrung mir Vorteile gebracht: Als ich 1951 zum Militär eingezogen wurde, kam ich in eine für mich sehr bekannte Situation. Die anderen Rekruten hatten viel mehr Mühe, sich einzufinden.

Schande und Liebe in Zeiten der Diktatur

SZ: Alle, die übers Lager geschrieben haben, sagen, dass man es eigentlich nicht schildern könne. Liegt es daran, dass der Autor dem Schicksal aller Opfer gerecht werden müsste, was aber dramaturgisch nicht möglich ist?

Kertész: Das auch. Vor allem aber kann man das Lager darum nicht beschreiben, weil man das Leben dort nicht noch einmal erleben kann.

SZ: Es ist fremd geworden?

Kertész: Der Autor scheitert, weil er sich sein eigenes Leben im Lager nicht mehr vorstellen kann. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie ich es geschafft habe, einen Tag nach dem anderen. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie es war, als ich Kartoffelschalen in mich hineinstopfte, oder wie es war, dass ich während der Arbeit nicht aufs Klo gehen durfte. Wenn ich das schildern wollte, ergäbe es schlechte Literatur.

SZ: Man kann nur dann gut schreiben, wenn man sich selbst in die Lage dessen versetzt, den man beschreibt?

Kertész: Dass mir das nicht möglich war, habe ich sehr schnell eingesehen, als ich am "Roman eines Schicksallosen" arbeitete. Literatur ist Literatur. Sie besteht in der Sprache. Und die Sprache hat Gesetze. Die darf man nicht verletzen. Ich kann im Roman nur so handeln, wie die Gesetze der Sprache es erlauben. Das geht - ironisch. Aber das ist ein Trick. Der Roman ist ein Trick, kein Leben. Man verzichtet auf die Einfühlung in das, was man erlebt hat, und beschreibt etwas anderes.

SZ: Daher die Haltung des Jungen im "Roman eines Schicksallosen", alles für "normal" zu erklären, was ihm an grausamen Widerwärtigkeiten zustößt.

Kertész: Ja, und das so aufzuschreiben, hat großen Spaß gemacht. Aber das kann ich nur wenigen verständlich machen. Die meisten Leute beharren darauf, dass ich gelitten haben müsse unter der Schriftstellerei. Das war aber nicht so. Es war das reine Vergnügen. Jeder Satz, den ich fand, war ein Wunder.

SZ: Das ist ungewöhnlich, andere Autoren haben berichtet, das Schreiben übers KZ sei ihnen sehr schwer gefallen.

Kertész: Ich bin sicher, dass es auch dem Leser Freude macht, wenn ich ihn in eine Welt erhebe, wo er nicht leiden muss. Der Leser kann und soll etwas begreifen, aber dies Erlebnis kann er nur an einem Punkt haben: am Ende des Buches. Daraufhin musste ich den "Roman eines Schicksallosen" komponieren. Ein Stoff wie das KZ kann den Leser unmöglich interessieren.

SZ: Ihr Kunstgriff im "Roman eines Schicksallosen", alles Fürchterliche "natürlich" zu nennen, funktioniert ja auch deshalb so gut, weil Sie im KZ noch ein halbes Kind waren. Kinder nehmen meistens als gegeben hin, was ihnen widerfährt. Haben Sie die Wirklichkeit, die Sie erlebten, für genauso natürlich gehalten wie der Junge in Ihrem Roman?

Kertész: In Wirklichkeit ist das ganz egal. Es ist keine Frage. Ich musste mich anpassen und durchkommen. Ich hatte keine Zeit für Introspektion.

SZ: Und als Sie noch zu Hause lebten? Hat man sich da über den wachsenden Antisemitismus empört?

Kertész: Nein. Meine Eltern waren überzeugte Ungarn, sie konnten sich nicht vorstellen, dass ihnen etwas radikal Schlechtes passieren würde, sie vertrauten auf den Staatsführer, der war unser Vater. Erst war der Kaiser Franz-Joseph unser Vater, dann Mihály Cárolyi, dann Miklós Horthy...

SZ: Dann hat man in Ihrer Familie tatsächlich als natürlich hingenommen, was geschah.

Kertész: Es war ganz natürlich! Was ich im Buch nicht erwähnt habe, was es aber auch gab, ist etwas anderes: Neugierde. Ich und meine Freunde, wir waren neugierig und interessierten uns für alles. Wenn man nicht gut behandelt wurde, von den Gendarmen zum Beispiel, ging man einfach weg - nach Haus.

SZ: In Ihrem neuen Buch "Dossier K." ist zu lesen: "Jede einmalige Geschichte ist Kitsch, weil sie sich dem Gesetzmäßigen entzieht. Jeder einzelne Überlebende zeugt von einer Betriebspanne. Nur die Toten haben recht." Das ist eine schöne Definition von Kitsch. Ist es aber nicht auch kitschig, wenn man das Geschehene ins Transzendente überhöht, wie Sie es mitunter tun? Sie sind Agnostiker, schreiben aber, dass man Auschwitz nur dann verstehen könne, wenn man Gott seinen Platz im Weltgefüge lässt.

Kertész: Wenn es Gott gäbe, könnte er erklären, warum Auschwitz notwendig war.

SZ: Das ist doch absurd!

Kertész: Ja, einverstanden.

SZ: Aber warum sagen Sie es dann?

Kertész: Das ist ein Spiel mit Wörtern.

SZ: Wenn Reden über Gott ein Spiel ist, warum spielen Sie nicht mit etwas anderem?

Kertész: Man spricht im Leben doch oft über Gott.

SZ: Sie lachen. Aber Sie haben einmal geschrieben: "Wenn Auschwitz vergeblich ist, so hat Gott bankrott gemacht; und wenn wir Gott zum Bankrotteur machen, so werden wir Auschwitz nie verstehen. So bin ich denn bereit..., mich unterm grauen Himmel in den Staub hinzuknien, das Gesicht mit Asche zu bedecken und Auschwitz im grässlichen Zeichen der Gnade anzunehmen." Was hat es auf sich mit Ihrem Hang zu Transzendenz und Mystik?

Kertész: Das habe ich ein bisschen blumig formuliert. Um ganz genau auf Ihre Frage zu antworten, müsste ich vermutlich tief in mir selbst untertauchen.

SZ: Bleiben wir da, wo es Luft zum Atmen gibt. Sie sagen: "In Diktaturen ist es leicht, Gott zu finden."

Kertész: Das ist gar nicht mystisch gemeint. In der Diktatur ist für Rationalismus kein Platz. Man kann nur an Gott glauben - oder an das System. Die Diktatur ist eine Regierungsform unter anderen. Aber die herrschende Sprache und die dazugehörigen Begriffe sind absurd. Als ich damals an dem Roman "Fiasko" schrieb, habe ich viel nachgedacht: Wie kann ich schildern, was sich abspielt? Versuchsweise habe ich Vergleiche zur klassischen Literatur gezogen, dazu, wie da etwa Priester geschildert werden. Aber was konnte ich anfangen mit einem Parteisekretär? Wer würde später noch verstehen, was das war? Die Diktatur, in der ich lebte, war eine absurde Welt, die Figuren waren absurd, die Sprache war es. Der Marxismus ist ein logisches und rationales System, entweder ist es wahr, oder es ist nicht wahr. Aber es hieß damals, man müsse daran glauben. Genauso gut kann man an Wunder glauben. Alles verlief parallel zur Sprache der Religionen. In einer Demokratie hingegen kann man sich auf die Ratio beziehen.

SZ: Der Schriftsteller könne sein Gefängnis überall finden, sagen Sie. Heutzutage leben Sie in der Berliner Demokratie. Haben Sie Ihr Gefängnis verloren?

Kertész: Nein. Aber der Käfig ist aus Gold. Man muss aufpassen.

SZ: Sie haben das Überleben und das Weiterleben als Schande empfunden. Es liegt daran, dass so viele Ihrer Angehörigen und Freunde umgebracht wurden?

Kertész: Das beschwert. Außerdem hat das Überleben einen Zug in sich, von dem man nicht gern redet. Überleben bedeutet: Man muss es mit Erfolg durchmachen. Man muss Erfolg haben. Und das ist eine Schande, die färbt das Überlebensgefühl. Ich habe keine Gewissensbisse, weil ein Jude aus Griechenland oder Norwegen auch gestorben ist. Schlecht fühle ich mich, weil ich den Erfolg suchte und Erfolg hatte.

SZ: Während der Diktatur standen Sie vor der Alternative: "Selbstmord oder Schmach des Weiterlebens." Und was ist, wenn ich fragen darf, mit der Liebe?

Kertész: Ja, das höre ich jetzt öfter: Im neuen Buch hätte ich zu wenig Anekdoten darüber erzählt.

SZ: Darauf kommt es nicht an. Ich meine: Wenn Sie damals liebten, dann muss dies Gefühl Sie doch gegen alles Niederdrückende gewappnet haben.

Kertész: Darauf kann ich nicht antworten. Das Buch: Ich habe es wie blind geschrieben. Wenn darin die Liebe fehlt, so ist das meine Schande, vielleicht.

SZ: Oder ein Stilmittel.

Kertész: Wie lieb von Ihnen, das so zu sagen.

(SZ vom 16.09.2006)

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