Süddeutsche Zeitung

Interview mit deutschem Gaddafi-Verleger:Psychogramm eines einsamen Herrschers

Manche halten ihn für den Helge Schneider unter den Diktatoren, andere für den derzeit gefährlichsten Mann der Welt. Ein Gespräch mit Muammar al-Gaddafis Münchner Verleger Michael Farin.

Ruth Schneeberger

Michael Farin, 57, ist promovierter Literaturwissenschaftler und dafür bekannt, mit Vorliebe und Hintergrundwissen heiße Eisen anzupacken. Unter anderem veröffentlichte er Literatur von und über klassische Personen des Sadomasochismus, schrieb an dem Drehbuch von "Der Totmacher" mit, das mit Götz George verfilmt wurde, inszenierte am Bayerischen Staatsschauspiel das Stück "Mein Freund Hitler" des japanischen Autors Yukio Mishima und kuratierte die Ausstellungen "Phantom der Lust" in Graz. Während er in den achtziger Jahren im Kulturreferat München tätig war, gründete Farin seinen eigenen kleinen Verlag: "Belleville", benannt nach dem multikulturellen Vorort von Paris. Darin findet sich ein prominenter Autor, von dem die wenigsten wissen, dass er neben politischen Texten auch literarische verfasst: Muammar al-Gaddafi. 2004 erschien im Belleville-Verlag "Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten", 2009 folgten politische Essays unter dem Namen "Illegale Publikationen" und "Visionen", in denen sich auch Gaddafis "Grünes Buch" wiederfindet. Ein Gespräch mit Gaddafis deutschem Verleger über den Mann hinter der Maske des skurrilen Tyrannen.

sueddeutsche.de: Herr Farin, wie wird man Verleger von Gaddafi?

Michael Farin: Eigentlich recherchierte ich im Winter 1996 über László Almásy, der später als "Englischer Patient" bekannt wurde. Bei einer Offroad-Fahrt durch Libyen erzählte man mir von Gaddafis Buch, das 1993 dort erschienen war: "Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten". Der Titel machte mich neugierig. Es war allerdings nicht so leicht, ein Exemplar zu erhalten, weil es im Arabischen zu dem Zeitpunkt nicht zu bekommen war.

sueddeutsche.de: Wie liefen die Kontaktaufnahme und die Klärung der Rechte ab?

Farin: Hilfreich war, dass 1996 beim französischen Verlag Favre eine Übersetzung unter dem Titel "Escapade en enfer et autres nouvelles" publiziert worden war, herausgegeben von Guy Georgy, einem ehemaligen französischen Botschafter in Libyen. Dieser Band enthielt auch die Essays, die ich später unter dem Titel "Illegale Publikation" veröffentlicht habe. Der Band "Vision" ist die deutsche Ausgabe des 2004 im französischen Verlag Editions l'Archipel edierten Sammlung von politischen Texten einschließlich des kompletten Textes des "Grünen Buches". Die Ausgaben sind Lizenzen der französischen Verlage. Für einen sogenannten Kleinverlag, wie der Belleville Verlag einer ist, war es nicht so leicht, die Rechte zu erhalten. Es wurde möglich, weil ich mit Gernot Rotter einen ausgewiesenen Kenner der arabischen Welt als Übersetzer und Kommentator der Ausgabe gewonnen hatte.

sueddeutsche.de: Hatten Sie selbst Kontakt zu Gaddafi - oder wer half Ihnen dabei, Ihr Vorhaben umzusetzen?

Farin: Ich habe keinen persönlichen Kontakt zum Autor gesucht. Es ging mir vor allem darum, in deutscher Sprache Texte bereitzustellen, die einen aufregenden Blick in das Denken eines Mannes ermöglichen, von dem man in den Medien meist nur Kurioses und Spektakuläres berichtet hatte.

sueddeutsche.de: Warum passen Gaddafis Schriften gut in Ihr Konzept?

Farin: In meinem Verlag veröffentliche ich Bücher, die ich gern selber lesen würde, die meine Forschungen als Literaturwissenschaftler und die anderen Arbeiten begleiten und dokumentieren. Das sind vor allem Bücher zum Kino, zur Filmgeschichte, zu Themenkreisen wie Kriminalwissenschaft und Psychologie, zu kulturgeschichtlichen Themen, etwa dem Dadaismus, und, neben einer schmalen Sparte Belletristik, auch über die Wüste: zur Erforschung der Sahara, eben Bücher zum "Englischen Patienten" Almásy - und auch die drei Bände mit den Schriften Gaddafis.

sueddeutsche.de: Wie war bisher die Nachfrage nach Gaddafis Büchern - und wie ist sie jetzt?

Farin: Die Auflagen der von mir publizierten Bücher liegen selten über 1000 Exemplaren. Alle drei Bücher von Muammar Gaddafi sind noch lieferbar. Ich wundere mich aber schon, wenn ich sehe, wie Reinhold Beckmann im Fernsehen das "Grüne Buch" hochhält und erzählt, das sei schwierig zu beschaffen gewesen. Die Bücher sind alle bei Amazon gerankt.

sueddeutsche.de: Wie sind die Reaktionen auf das Buch "Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten"?

Farin: Es gab ein paar Besprechungen, unter anderem in der Zeit. Allerdings war das Interesse der Medien damals eher gering. Ein schönes Zitat von Arno Widmann (Feuilletonchef der Frankfurter Rundschau, Anm. d. Red.) fällt mir ein: Er schrieb, das Buch sei eines der aufregendsten Selbstzeugnisse zum Thema Masse und Macht. Die Geschichte "Die Flucht in die Hölle" seien neun Seiten Weltliteratur. Zitat: "Es gibt wahrscheinlich von keinem Autokraten der letzten 3000 Jahre auch nur im entferntesten einen ähnlichen Text."

sueddeutsche.de: Gaddafi beschreibt sich in "Das Dorf ..." als einsamen Tyrannen, der sich auch selbst tyrannisiert, und als bescheidenen Beduinen, der selbst keine Ansprüche an Reichtum habe. Wie passt das mit seinem geschätzten Milliardenvermögen zusammen?

Farin: Ich glaube nicht, dass es das Geld, der Reichtum war, das ihn wirklich interessiert hat. Für mich war es eine sehr spannende Erfahrung, dieses andere Denken kennenzulernen. Die Sprache ist viel blumiger als unsere. Es gibt unheimlich viele Passagen, die sich auf den Koran beziehen. Gaddafi zeigt ein sehr ambivalentes Denken. Er nennt Argument und Gegenargument zur selben Zeit und verdreht sie in einer Weise, die sehr eigen ist und skurril wird. Es ist ein dialektisches Denken.

sueddeutsche.de: Manche werfen ihm vor, er sei komplett durchgeknallt.

Farin: Man kann diese Schriften gut als Psychogramm lesen. Gaddafi ist ja auch gebildet. Das hat mich fasziniert.

sueddeutsche.de: In seinem Buch "Illegale Publikationen" schreibt er, der Kommunismus sei nicht tot, er sei noch gar nicht geboren. Wie würden Sie als Kenner seiner Schriften seine konkrete politische Haltung beschreiben?

Farin: Ich denke, Gaddafi hält sich für einen Idealisten. Allerdings hat er während der letzten Jahrzehnte seiner Macht, warum auch immer, das Volk aus den Augen verloren. Machtfülle versperrt den Blick auf das Wesentliche. Das Wesentliche ist der Mensch. Jeder einzelne.

sueddeutsche.de: Wie schätzen Sie die Aussagen über Deutschland in seinem Buch "Illegale Publikationen" ein, wenn er Deutsche und Libyer als "Brüder arischer Rasse" beschreibt?

Farin: Deutschland war und ist in Libyen überaus positiv besetzt: Afrikakorps gegen England, Tausende Gastarbeiter aus der DDR und der Bundesrepublik, bedeutender Ölabnehmer, Wirtschaftsfaktor. Seine Ideen zum Zweiten Weltkrieg sind allerdings, ich würde sagen: krude.

sueddeutsche.de: Auf Gaddafi wird mit viel Spott reagiert. In einem Radiointerview wurde er vor Kriegsbeginn als "Helge Schneider unter den Diktatoren" bezeichnet. Fanden Sie diesen Vergleich angesichts seiner surrealistischen Texte und seiner öffentlichen Verkleidungen passend?

Farin: Helge Schneider: Nun ja. Popstar: Ja, sicher. Er hat sich immer zu inszenieren gewusst.

sueddeutsche.de: Warum tritt Gaddafi Ihrer Ansicht nach so auf?

Farin: Eine solche Frage lässt sich nicht in der gebotenen Kürze beantworten. Wer einen solchen Personenkult betreibt, verdeckt meist etwas. Ich maße mir nicht an, zu wissen, was das sein könnte.

sueddeutsche.de: Versteht man Gaddafi besser, wenn man seine Bücher liest? Oder ist das, was er aufschreiben ließ, beziehungsweise selbst aufschrieb, nur das, was er die Welt wissen lassen will?

Farin: Unbedingt versteht man ihn danach besser. Leider nimmt sich kaum noch jemand die Zeit für wirkliche Recherche. Ich denke, die Texte sind sehr nahe an seinem Denken. Auch wenn sie uns fremd anmuten.

sueddeutsche.de: Ist Gaddafi für Sie ein ernstzunehmender Dichter oder interessierte Sie eher die Figur hinter den Zeilen?

Farin: Meine Bücher sollten einen Blick hinter die Kostüme ermöglichen, eine Innensicht. Unter anderem natürlich auch seinen Einsatz für die Afrikanische Union dokumentieren. Aber das ist jetzt alles Schnee von gestern. Die Gemeinschaft der Willigen hat ganz andere Pläne mit Libyen und mit Afrika. Hoffentlich Pläne, die dem Kontinent und seinen wunderbaren Menschen auch ein wenig nützen.

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