Doc: Eben ... deswegen kommen wir zu Schritt drei und damit zu dem, was mich persönlich vor allem an der digitalen Bildbearbeitung interessiert: Wir kommen zu Retuschen und Montagen. Das beginnt mit dem Entfernen störender Elemente. Etwa bei Tante Else, die sich in ihrem neonfarbenen Badeanzug vor einer Reklametafel ausmacht wie die Tarantel auf dem Geburtstagskuchen. Hier geht es um differenziertere Techniken, um exakt die Bildstellen einzugrenzen und auszuwählen, mit denen etwas geschehen soll: Sie können etwa das Umfeld von Tante Else mit weichem Rand selektieren und es mit einem Unschärfefilter bearbeiten, um den Hintergrund verschwimmen zu lassen und die Tante so optisch hervorzuheben. Sie können sie aber auch aus dem einen Bild herauskopieren - weg von der Reklametafel - und in ein anderes einfügen. Vielleicht haben Ihre Kinder auf einer Weide in Schleswig-Holstein ein Schaf gestreichelt, und nun versetzen Sie diese Szene auf den Markusplatz in Venedig. Oder Sie tauschen einen überbelichteten Himmel gegen einen mit schönen Kumuluswolken aus. Oder eben Tante Else gegen eine Tarantel.
sueddeutsche.de: Klingt ja lustig. So was haben wir früher auch mit Schere und Fotos aus Magazinen gemacht. Hier einen Kopf ausgeschnitten und dort auf einen anderen Körper gesetzt.
Doc: Und so sah es dann ja auch aus. Doch Vorsicht! Bloßes "Hier Ausschneiden!" und "Dort Einsetzen!" reicht nicht aus für eine perfekte Montage, die den Betrachter davon überzeugt, dass es tatsächlich so gewesen sein könnte und das Bild von einem vorgeblich realen Ereignis stammt. Damit nachvollziehbar wird, wie komplex und vielseitig diese Thematik ist: habe viele Bücher ausschließlich zu diesem Thema verfasst: Über die Berücksichtigung von Perspektive, Unschärfe, über Beleuchtung und Schattenwurf, Lichtstimmung und Bildlogik.
sueddeutsche.de: Professionelle Bildbearbeitung scheint eine Kunst geworden zu sein.
Doc: Das war sie schon immer. Ich vergleiche anspruchsvolle Bildbearbeitung gern mit dem Schachspielen: Als Anfänger ist man froh, wenn man weiß, wie die Figuren gezogen werden, und man kennt vielleicht ein paar klassische Eröffnungen. Auf diese Weise kann man mitspielen, viel mehr nicht. Ein Meister hat nicht nur den nächsten Zug im Kopf, sondern vier, fünf oder sechs - und bei der Bildbearbeitung ist es genauso. Wenn Sie gelernt haben, Ihre Bildbearbeitungs-Software zu beherrschen und anzuwenden, dann machen Sie vielleicht fünf Schritte, die völlig unsinnig erscheinen und das Bild immer schlechter aussehen lassen, und wenn Ihnen dabei jemand über die Schulter schaut, ist er wahrscheinlich entsetzt. Aber dann kommt der letzte der geplanten Schritte, und plötzlich ist da ein umwerfender Effekt zu sehen und ein faszinierendes Ergebnis.
Doc Baumann, Jahrgang 1950, hat Kunst studiert und über die "Bedingungen der Darstellungsfunktion von Bildern" promoviert. Er war Mitarbeiter diverser Fotographie-Zeitschriften und ist Herausgeber von "DOCMA - Doc Baumanns Magazin für digitale Bildbearbeitung". Seine andere Leidenschaft ist das Rockermilieu. Lange Jahre Jahre war er Chefredakteur und danach Herausgeber bei "Bikers News", dem Referenzheft der Szene. So hat er, neben unzähligen Büchern über Bildbearbeitung, auch welche wie "Chopper - Bilder aus dem Bikerleben" verfasst.