Interview mit Dieter Kosslick:"Enorme Durchschlagskraft"

Dieter Kosslick ist rastlos unterwegs, um die beeindruckendsten Filme nach Berlin zu holen. Im Interview spricht der Berlinale-Chef über die diesjährige Auswahl und...

Tobias Kniebe

SZ: ...über interessante neue Entwicklungen im Weltkino.

Interview mit Dieter Kosslick: Ein zufriedener Chef: Für die Berlinale hat Dieter Kosslick ein vielschichtiges Programm zusammengestellt.

Ein zufriedener Chef: Für die Berlinale hat Dieter Kosslick ein vielschichtiges Programm zusammengestellt.

(Foto: Foto: ddp)

Dieter Kosslick: Das Weltkino, so wie wir es in den eingereichten Filmen verfolgen konnten, beschäftigt sich sehr mit dem Individuum. Es gibt weniger Systemfilme, vielmehr werden anhand von Einzelschicksalen bestimmte größere Zusammenhänge erklärt. Ein Beispiel dafür ist "There Will Be Blood". Die zwei Protagonisten, der Ölhändler und der Religionshändler, bekämpfen sich bis aufs Blut. Aber damit wird auch die Geschichte von Kapitalismus und Kirche in Amerika erzählt. Andere Filmemacher setzen in diesem Jahr auffällig darauf, den Zustand der Welt anhand von Kinderschicksalen zu erzählen.

SZ: ...über die stärkere Präsenz des Dokumentarfilms.

Kosslick: Der Dokumentarfilm in seinen verschiedensten Variationen wird immer präsenter. Als Form, bestimmte Dinge auszudrücken oder zu beschreiben, ist er aktueller denn je. Diese Filmemacher versuchen etwas zu sagen, was man fiktional vielleicht gar nicht erzählen kann. Also zum Beispiel der Fall Abu Ghraib, den Errol Morris in "Standard Operating Procedure" aufgreift. Da weiß natürlich die ganze Welt, worum es geht. Aber mit den Mitteln, die Morris einsetzt, wird einem das noch einmal ganz anders vor Augen geführt. Dass diese Präsenz des Dokumentarischen auch im Kino funktionieren kann, haben viele Filmemacher in letzter Zeit bewiesen.

SZ: ...über die Rückkehr des Genrekinos.

Kosslick: Im Panorama und im Wettbewerb fällt auf, dass wieder sehr viele Geschichten anhand des Genrekinos erzählt werden. Das ist deshalb bemerkenswert, weil das Genrekino nicht das klassische Festivalkino ist. Aber dieses Mittel wird wieder benutzt, um die Leute zu faszinieren und zu fesseln, mit Suspense und mit allen Tricks, die das Kino hergibt. Beispiele wären die französischen Filme "Lady Jane" sowie "Julia" mit Tilda Swinton. Das sind klassische Thriller, würde ich sagen. Und auch unser finnisch-deutscher Beitrag "Musta jää - Black Ice".

SZ: ...über eine neue Direktheit im Stil der Regisseure.

Kosslick: "There Will Be Blood" ist archaisches Urgewaltkino, das kann man nicht anders sagen. Schon der Roman von Upton Sinclair hat diese riesige Wucht. Dann kommt Paul Thomas Anderson dazu, Daniel Day-Lewis, und schließlich noch die Musik von Radiohead. Man macht zufällig in Bayern ein Fenster auf und kann es gar nicht glauben, dass der Berg so hoch ist. So ein Film ist das. Das gibt es bei dieser Berlinale öfter: Dass man bewusst oder unbewusst das Gefühl hat, die haben das Interface einfach vergessen. Auch "Restless" von Amos Kollek, der eine Geschichte sehr hart und direkt erzählt, würde ich dazuzählen. Die Art und Weise, wie einem etwas vermittelt wird, ist verdichtet und sehr reduziert. Das hat eine enorme Durchschlagskraft.

SZ: ...über den Zustand des politischen Films.

Kosslick: Ich habe nicht das Gefühl, dass das politische Kino vorbei ist, nur hab ich das Gefühl, dass der Ansatz nicht mehr so direkt ist. Dass sehr viele Kinder im Mittelpunkt des Geschehens stehen, hängt natürlich damit zusammen, dass Ausbeutung von Kindern, Kinderpornographie, Sweatshops und Kindersoldaten eine Realität in dieser Welt sind. Das ist natürlich politisch.

SZ: ...über den schwierigen Prozess der Filmauswahl.

Kosslick: Das Schlimme ist, wenn man anfängt. Da gibt es eine sogenannte "Watchlist", wie wir sie nennen, und ab da ist man dann neun Monate auf der Suche. Dann verliert man eventuell einen Film, und der andere wird nicht fertig, und den dritten hat es nie gegeben. Aber dann kommen wieder welche, die man gar nicht auf dem Radar hatte. Am Ende kondensiert sich die ganze Geschichte. Weil man einige Filme schon in Venedig sieht, oder in Toronto, oder dann in Sundance oder Rom. Vielleicht sieht man einen dieser "verlorenen" Filme auf einem anderen Festival, und dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man ärgert sich schwarz - oder man freut sich aus anderen Gründen.

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