Süddeutsche Zeitung

Interview:"Ich hegte keine Rachegefühle"

"Sehr kleine Liebe" rührt an ein Tabu: Denn das Missbrauchsopfer ist nicht bereit zur "Leugnung des Schönen, das es gab". An diesem Freitag liest der niederländische Autor Ted van Lieshout aus seinem Buch bei Literatur Moths

Interview von Barbara Hordych

Schon zu Beginn seiner Schriftstellerkarriere stand für den niederländischen Kinder-und Jugendbuchautor Ted van Lieshout fest, dass er in seinem Leben zwei Bücher zu schreiben hätte: eines über den Tod seines jüngeren Bruders, verknüpft mit seinem eigenen Coming Out - der Jugendroman "Bruder" wurde 1999 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Das andere Buch behandelt die pädophile Begegnung eines erwachsenen Mannes mit einem zwölfjährigen Jungen. "Sehr kleine Liebe", eine Abfolge von Gedichten und Briefen, erschien 1999 in den Niederlanden, 2014 im Münchner Susanna Rieder Verlag. Ein Gespräch mit dem Autor über dieses Buch, das gewaltig an einem Tabu rührt und trotzdem berührt.

SZ: Wie wichtig sind für Sie die autobiografischen Elemente beim Schreiben?

Ted van Lieshout: Als Schriftsteller soll man über das schreiben, was man kennt, was man selbst erlebt hat. Das war bei mir der Tod meines zwei Jahre jüngeren Bruders. Der aber war schon zwanzig Jahre alt, als er starb, und wohnte gar nicht mehr zu Hause. Auch ich lebte damals woanders, in Amsterdam. Aber weil es ein Jugendbuch werden sollte, ließ ich die Geschichte der größeren Nähe wegen in einer Zeit spielen, als er 14 Jahre alt war, so dass wir darin beide noch unter einem Dach leben. Darin besteht die Literarisierung.

In "Sehr kleine Liebe" greifen Sie ein anderes Thema auf, das Sie geprägt hat . . .

Es hat mich geschädigt. Gleichzeitig finde ich, das jeder Erwachsene die Pflicht hat, sein Glück zu suchen. Dieses Buch mit Gedichten und Briefen des Mannes an mich und von mir an ihn habe ich gemacht, um zu zeigen, dass Kinder, die etwas Derartiges erlebt haben, nicht automatisch verloren sind. Wenn sie Menschen um sich herum haben, die verstehen, was ihnen passiert ist, haben sie auch eine Chance darauf, später glücklich zu werden.

Ihnen ist es wichtig, die positiven Aspekte dieser Beziehung zwischen einem Zwölfjährigen und einem Erwachsenen nicht zu verschweigen?

Mir kam es darauf an zu zeigen, wie so eine Verführung passieren kann: Es war eben kein Gewaltakt, es war kein "böser Mann", der mich von einem Fahrrad gezerrt und missbraucht hätte. Sondern es war ein sehr netter Mann, der mir Aufmerksamkeit und Zuwendung schenkte, mir das Gefühl vermittelte, etwas Besonderes zu sein. Ich kannte ihn bereits zwei Jahre lang, bevor es überhaupt zu ersten Übergriffen kam.

Warum haben Sie sie zugelassen? Hatten Sie Angst vor ihm?

Nein, ich war eher neugierig. Außerdem schenkte er seine Aufmerksamkeit mir allein, die ich zu Hause mit drei Geschwistern teilen musste. Das gefiel mir. Er war so nett zu mir, ging auch nur ganz allmählich Schritt für Schritt weiter. Als er mehr von mir wollte, dachte ich, das hätte er auch verdient, als Belohnung sozusagen.

Aber eines Tages ging er Ihnen zu weit?

Ja. Da überschritt er eine Grenze. Ich wusste zwar schon für mich alleine, dass ich ein sexuelles Wesen bin. Aber ich wollte nicht, dass jemand anderes das wusste. Da bin ich gegangen, habe mich endgültig von ihm verabschiedet und ihn nie wieder besucht.

Wo haben Sie als Junge die Kraft hergenommen, diesen Entschluss zu fassen?

Mein Leben änderte sich. Ich kam auf eine neue Schule, und ich hatte das Gefühl, dort einen Neuanfang machen zu wollen. Ich wollte kein Geheimnis mehr haben, was mich von allen anderen unterschied.

Sie haben "Herrn M.", wie Sie ihn in Ihrem Buch nennen, nie verraten?

Nein. Mit einer Ausnahme. Als ich 15 Jahre alt war, habe ich meiner Mutter von diesen Erlebnissen erzählt.

Wie hat sie reagiert?

So wie viele Eltern reagieren, wenn sie davon erfahren: panisch, wütend, sie wollte zur Polizei gehen, den Mann anzeigen. Ich aber habe sie angefleht, das nicht zu tun. Ich hegte keine Rachegefühle; und ich wollte auch nicht von Polizisten zu dieser "Beziehung" befragt werden. Nachdem meine Mutter sich beruhigt hatte, hat sie auf mich gehört, meinen Willen respektiert.

Trotzdem war es Ihnen ein Bedürfnis, Ihre Erfahrung, literarisch verarbeitet, mitzuteilen. An welche Leser denken Sie?

An all diejenigen, die einen Anknüpfungspunkt zu einer pädophilen Erfahrung haben: Kinder, die so etwas mitmachen, Erwachsene, die so etwas mitgemacht haben. Eltern, Verwandte, Pädagogen, die mit Kindern zusammenleben oder zusammenarbeiten, denen etwas Ähnliches widerfahren ist wie mir. Ich möchte ihnen eine Stimme geben, ihnen die Möglichkeit eröffnen, sich untereinander mitzuteilen. Wenn man eine solche Beziehung nur mit stumpfen Tabus belegt, kapseln die Kinder sich ein, sie werden zu Opfern, die nichts erzählen dürfen.

Sie haben auch schon Beifall aus der falschen Ecke bekommen - Pädophile, die Ihr Buch "wunderbar" fanden, weil Sie so viel Verständnis für den Täter aufbringen. Was sagen Sie dazu?

Die haben mich gründlich missverstanden. Deshalb gibt es in der deutschen Ausgabe auch extra ein Nachwort, in dem ich ganz deutlich sage, dass Erwachsene, die sexuellen Kontakt zu Kindern haben wollen, diesem Begehren nicht stattgeben dürfen. Die Wahrscheinlichkeit, ein Kind dadurch zu beschädigen, ist so groß, dass ein Erwachsener dieses Risiko nicht eingehen darf.

"Herr M." hat sich nach 25 Jahren bei Ihnen mit einem Brief gemeldet, um Sie um Vergebung zu bitten . . .

Diese Vergebung habe ich ihm auch erteilt. Ich habe ihm sogar ein Treffen vorgeschlagen, weil ein Kollege zu mir sagte: Du bist Schriftsteller, du musst daraus ein Buch machen! Aber es kam nie zu einem Treffen, auch nie zu einem Anruf.

Sie veröffentlichen in Ihrem Buch - in leicht abgewandelter Form - zwei Briefe, in denen der verheiratete "Herr M." beteuert, "nie zuvor und nie mehr danach etwas so Schändliches" getan zu haben. Glauben Sie ihm das?

Nun, jeder Ladendieb, der erwischt wird, beteuert: Es ist das erste Mal, dass ich so etwas mache, und es wird nie wieder vorkommen! Ob man das dann glauben will oder nicht, muss jeder selbst entscheiden.

Sehr kleine Liebe, Lesung und Diskussion mit Ted van Lieshout, Fr., 12. Juni, 19.30 Uhr, Literatur Moths, Rumfordstr. 48, 29 16 13 26

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Quelle:
SZ vom 12.06.2015
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