Interview:"Du Opfer!"

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Sebastian B. und andere "Verlierer" - ein Gespräch mit dem Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer über einen heiklen Begriff.

Sonja Zekri

"Bevor ich gehe, werde ich euch einen Denkzettel verpassen, damit mich nie wieder ein Mensch vergisst", hat Sebastian B. im Internet geschrieben. Kurz darauf schoss er in seiner Schule in Emsdetten um sich, verletzte 30 Menschen und schoss sich in den Mund. In seinem Abschiedsbrief nannte er sich einen "Verlierer". Ein Schimpfwort unter Jugendlichen lautet: "Du Opfer". Wächst die Zahl der Verlierer? Und wie gefährlich sind sie? Ein Gespräch mit Wilhelm Heitmeyer, dem Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld.

Sebastian B. in einem Video, das im Internet veröffentlicht wurde (Foto: Foto: ddp)

SZ: "Das einzigste, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war, dass ich ein Verlierer bin", hat Sebastian B. geschrieben. Produziert die Schule Verlierer?

Wilhelm Heitmeyer: Wir müssen uns die Anerkennungsbilanzen ansehen ...

SZ: ... also die Frage, ob ein Mensch so viel Anerkennung bekommt, wie er braucht ...

Heitmeyer: Genau. Und dafür gibt es drei zentrale Quellen: In der Familie bekommt ein junger Mensch Liebe. In der Schule kann er sich über Leistung seine Position in der Klasse erobern. Und die Altersgenossen verleihen ihm Status und Stärke. Dabei ist die Schule - wie der Freundeskreis - immer eine Quelle von Anerkennung und Verletzung zugleich. Bekommt ein junger Mensch sehr viel weniger Anerkennung, als er sich wünscht, wird es gefährlich.

SZ: Wer bekommt in der Pubertät schon genug Anerkennung?

Heitmeyer: Die meisten Jugendlichen haben aber trotzdem das Gefühl, dass sie irgendwie klarkommen. Der Verlust der Kontrolle über die eigene Lebensplanung kann deshalb sehr gravierend sein - und umschlagen in den Wunsch nach der Kontrolle über das Leben anderer. Aber man muss das gesamte Handlungsfeld ansehen. Die Rolle der Medien beispielsweise, wobei Computerspiele nur Handlungsmuster liefern - wie macht man das? - , keine Motive. Das dritte Element ist die Waffenkompetenz. Alle drei Elemente müssen zusammenkommen ...

SZ: Und der Mensch wird zur Gefahr.

Heitmeyer: Es gibt keine Zwangsläufigkeit. Jugendliche, die die Schule zu Verlierern macht, können ganz unterschiedliche Wege nehmen. Manche werden depressiv, andere alkoholabhängig, die dritten wählen die Gewalt. Verlieren ist ein langer Prozess und ihn umzukehren und wieder in die ersehnte Siegerposition zu gelangen, kann fast nur über den einmaligen Gewaltakt gelingen, über eine letzte Machtdemonstration. In der Schule läuft wohl das völlig falsche Muster ab: Sie sucht nach Schwächen, nicht nach Stärken. Sie müsste nicht nur ökonomisch verwertbare Leistungen hoch bewerten, sondern auch andere, etwa im Sport - wie in Amerika.

SZ: Welche Rolle spielt die ökonomische Not? Sebastian B. war nicht arm . . .

Heitmeyer: Nein, aber die Schule verteilt ja bereits die Lebenschancen. Und selbst bei Abiturienten gibt es ja keine zwingende Verbindung mehr zwischen Leistung und Jobchancen.

SZ: Stehen junge Männer wie Sebastian B. für einen neuen sozialen Typus - den des Verlierers?

Heitmeyer: Von einem Typus würde ich nicht sprechen. Es gibt immer wieder Weggabelungen, an denen sich Menschen entscheiden können. Ein Typus ist zu festgeschrieben, da wäre man schnell bei Persönlichkeitsmerkmalen. Das ist gesellschaftlich gefährlich, denn dann geht es nicht mehr um Ursachen, sondern um Pathologien. Da würde wieder das fatale Grundmuster - Schwächen suchen, nicht Stärken - greifen.

SZ: Dennoch wird der "radikale Verlierer" derzeit gern diskutiert . . .

Heitmeyer: Sie meinen Enzensbergers Essay "Schreckens Männer"...

SZ: ... der neben haarsträubenden biologistischen Ausfällen einen klugen Satz enthält: Mit dem Fortschritt habe auch die Enttäuschbarkeit des Menschen zugenommen. Entstehen heutige Verlierer aus einem riesigen, aber uneinlösbaren Gerechtigkeitsversprechen?

Heitmeyer: Ganz bestimmt. Aber es kommt noch etwas hinzu: Heute können Lebensschicksale nicht mehr an gemeinschaftliche Benachteiligungen geknüpft werden. Jeder ist für sein Schicksal selbst verantwortlich, und das erhöht den Druck auf den Einzelnen maßlos. Heute kann man nicht mehr sagen: Ich bin nicht allein, anderen geht es genauso. Der Einzelne steht nur noch für sich. Das hat Vorteile, wenn er's hinkriegt, aber gravierende Nachteile, wenn er scheitert.

SZ: Wir reden doch gerade von einer neuen Unterschicht, einem Prekariat, der Generation Praktikum - die Klassen kehren zurück.

Heitmeyer: Aber die Klassensolidarität hat sich aufgelöst. Die Unterschicht ist ein Produkt der Statistik. Fragen Sie mal, wer sich stolz zur Unterschicht bekennt, Sie werden keinen finden. Das kollektive Bewusstsein ist weg, und es wird sich auch nicht wiederbeleben lassen.

SZ: Die Amokläufer von Littelton oder Emsdetten waren Männer, ebenso wie die meisten Selbstmordattentäter etwa im Irak. Ist diese Art der Entladung ein männlicher Defekt?

Heitmeyer: Das Anerkennungsdefizit ist sicherlich bei Mädchen ähnlich, aber sie gehen wohl anders damit um. Es heißt, dass Mädchen ihre Wut in sich hineinfressen, magersüchtig werden, während Jungen explodieren. Empirisch nachweisen kann ich es nicht.

SZ: Es gibt Mädchen-Gangs ...

Heitmeyer: Das sollte man zwar nicht überbewerten, aber ja, es gibt Veränderungen. Auch junge Frauen müssen sich heute allein durchsetzen - Gewalt ist dann auch eine Option für sie.

SZ: Sebastian B. hat sich seine Wut im Internet von der Seele geschrieben, aber kein Psychologe hat ihm geholfen...

Heitmeyer: Oh, da seien Sie vorsichtig! Ich bin nicht überzeugt, dass jetzt Heerscharen von Psychologen in die Schulen einfallen sollten. Die Amerikaner haben herausgefunden, dass nur die Gleichaltrigen die explosive Gefahr als erste wahrnehmen können. Sie kennen die Verachtung, unter der der Täter leidet, sie kennen seinen Medienkonsum und seine Waffenkompetenz. Davon erfahren die Lehrer nichts. Man muss sich immer die Gesamtsituation ansehen: Wer im Schützenverein ist, muss nicht Amok laufen. Hunderttausende spielen Counter-Strike, und es passiert nichts.

SZ: Lassen wir uns durch die spektakulären Gewalttaten nicht blenden? Junge Frauen und Männer mit einer Wut auf die Welt hat es auch früher schon gegeben.

Heitmeyer: Möglicherweise wurden diese aber abgefangen durch das Bewusstsein, einem Kollektiv anzugehören. Zumindest sind die Desintegrationsgefahren sehr viel größer geworden, weil die Menschen sich nicht mehr so stark in Familien oder in anderen Zusammenhängen eingebunden fühlen - ohne dass man den früheren Zustand idealisieren sollte.

SZ: Und diese Bindungen haben auch nicht immer funktioniert. Mangelnde Anerkennung und Wut auf die Welt haben schon größere Gewaltexzesse ausgelöst. War Hitler ein radikaler Verlierer?

Heitmeyer: Enzensberger könnte das sicher beantworten.

© SZ vom 22.11.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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