Interview:"Den Lorbeerkranz konnte man versilbern"

Wo trainierten im alten Olympia die Frauen? Und vor allem: Was hatten sie dabei an? Gab es Doping-Kontrollen? Was ist bitte "Kalokagathia"? Vor dem Start der olympischen Spiele erklärt uns Archäologe Raimund Wünsche - die Griechen.

Interview: Willi Winkler

Raimund Wünsche, 60, ist Archäologe und leitet die Glyptothek und die Antikensammlungen in München, in denen derzeit die von ihm betreute Ausstellung "Lockender Lorbeer" gezeigt wird. Wünsche ist schon mit 16 an die klassischen Stätten getrampt und hat den Griechischlehrer mit seinem Interesse am alten Griechenland überfordert.

Statue

"Die Griechen waren glücklichere Menschen?" Szene aus dem Museum Schloss Wilhelmshöhe in Kassel

(Foto: Foto: dpa)

Raimund Wünsche ist verheiratet und hat zwei Töchter. Natürlich heißt eine von ihnen Sophia, benannt nach dem griechischen Wort für Weisheit.

Herr Wünsche, die olympische Idee des Baron de Coubertin ist furchtbar auf den Hund gekommen.

Moment, Moment ...

Alles ist kommerzialisiert, alle sind gedopt, die Olympischen Spiele haben nichts mehr vom Geist des klassischen Griechenlands.

Also, langsam erst mal. Coubertin ist bei seiner Neubegründung der Spiele nicht von der Antike ausgegangen, sondern vom College-Sport in England und Amerika. Und ein englischer Gentleman wollte mit Arbeitern auch sportlich nichts zu tun haben, daher der früher so viel gepriesene Amateur-Status. Noch 1948 wurde die schwedische Springreiterequipe disqualifiziert, weil einer der Teilnehmer kein Offizier war. So etwas kannte die Antike nicht. Da konnte jeder freie Bürger teilnehmen, unabhängig von seinem Stand.

Warum war der Sport so wichtig?

Er machte Spaß und bot die Möglichkeit, unsterblich zu werden. Die Griechen kannten weder Wiedergeburt noch Auferstehung. Sie wussten, das Leben ist schnell vorbei - aber der Ruhm, auch der sportliche, bleibt! Bei den Römern war es nicht anders: "Exegi monumentum aere perennius ..."

"Ich habe mir ein Denkmal errichtet, beständiger als Erz." Horaz.

Unsterblich wie die Götter wird nur, wer Übermenschliches geleistet hat, und darum konnten große Sportler in der Antike als Heroen, also wie Götter verehrt werden. Die Griechen glaubten, dass der Ruhm das Grab erwärmt.

Sport war also nichts als eitle Ruhmbegierde.

Das sicher, aber damals fand kein Sportler etwas dabei, einen Siegespreis zu erhalten. Der heißt auf Griechisch athlon; davon leitet sich das Wort Athlet ab. Die Oliven- oder Lorbeerkränze waren symbolische Werte, vergleichbar mit unseren heutigen Goldmedaillen. Dieser Kranz ließ sich aber versilbern.

Wie sah das Geldverdienen aus?

Bei den vier großen Spielen in Olympia, Delphi, Isthmia bei Korinth und Nemea wurde man zwar nur bekränzt, aber man durfte sich zum Beispiel in Olympia - auf eigene Kosten - eine Statue aufstellen lassen. Die Vaterstadt hat dann den heimkehrenden Sieger belohnt, weil er den Ruhm der Stadt erhöhte.

In Athen erhielt er fünfhundert Drachmen, durfte sein Leben lang kostenlos im Rathaus speisen und hatte im Theater einen festen Platz in der Ehrenloge. Bereits im 5. Jahrhundert vor Christus gab es neben den vier großen noch fünfzig weitere Spiele, in römischer Zeit waren es Hunderte. Gewöhnlich wurden dort großzügige Preisgelder, auch mal Startgelder bezahlt - vergleichbar mit dem Audi, den Boris Becker bei einem Start in Ingolstadt bekam.

Und gedopt sollen die Athleten auch noch gewesen sein!

In der Antike hat man mit Spezialdiäten und Ähnlichem alles versucht, um noch stärker, noch besser zu sein. Hätte man von einer Pflanze gewusst, dass sie dazu verhilft, dann hätte man sich damit gedopt. Das war damals kein Problem. Und wir sollten nicht unsere Probleme auf die Antike projizieren.

"Den Lorbeerkranz konnte man versilbern"

Der Entzauberungswahn gehört halt zur Moderne.

Statue

Exponat aus dem Nationalmuseum Athen: ein junger Athlet, porträtiert um 450 vor Christus.

(Foto: Foto: AP)

Leider. Bei den Olympischen Spielen ging es aber meist sehr fair zu. Die Athleten mussten einen Eid schwören, sich an die Regeln zu halten. Verstöße waren selten und wurden hart bestraft. Theogenes von Thasos, ein Boxgigant, der 22 Jahre lang unbesiegt blieb, trat gewöhnlich nach dem Boxen auch noch am selben Nachmittag im Pankration, einer wilden antiken Kampf-Disziplin, an.

Einmal, 480 vor Christus, hatte er sich in Olympia bei seinem Boxsieg so verausgabt, dass er anschließend im Pankration nicht mehr kämpfte. Dafür wurde er mit zwei Talenten Strafe belegt.

Wie viel ist das?

Ein Talent sind 6000 Drachmen. Der Tageslohn eines Arbeiters betrug damals knapp eine Drachme. 12000 Drachmen Strafe, eine Summe, für die ein Arbeiter über 30 Jahre schuften musste, nur weil Theogenes durch sein Nichtantreten dem Pankration-Sieger die Aura eines wahrhaft glanzvollen Siegers nahm.

Es ging um die Ehre.

Vor allem.

Und wie steht's mit der Brutalität beim Boxen? Die sollen sich doch gegenseitig tot geschlagen haben.

Das ist Quatsch! Natürlich, wenn ein Boxer einen kräftigen Schlag auf die Nase bekam, dann blutete sie oder war gebrochen. Das war in der Antike nicht anders als heute. Es gab damals keine gepolsterten Handschuhe, sondern die Handknöchel waren mit bloßen Lederriemen umwickelt. Es gab keinen Zahnschutz.

Andererseits: Der schon erwähnte Theogenes errang über 1000 Siege. Anschließend ging er in die Politik. Und solche Karrieren sind kein Einzelfall. Es wird von Boxern berichtet, die siegten, ohne sich einen Treffer einzufangen. Das war möglich, da nur Schläge auf Kopf und Hals erlaubt waren. Man konnte sich also unglaublich gut decken. Wichtig war Reaktionsschnelligkeit und vor allem Kondition. Stellen Sie sich vor: Boxturnier in Olympia. Pralle Augustsonne. Ein Kampf nach dem anderen, keine Rundeneinteilung. Da brauchte man Kondition.

Woher hatten die Sportler diese Kondition?

Eine Frage der Ernährung, des Trainings und des unbändigen Willens.

b>Alles für den Ruhm in der Nachwelt.

Manche sind erst durch ihre Taten nach Beendigung der Sportkarriere berühmt geworden. Der Philosoph Plato, heute Inbegriff des Humanismus, war in seiner Jugend ein höchst erfolgreicher Freistilringer. Er siegte bei den großen Spielen in Isthmia. Das bedeutet etwas. Wie viel und wie lang muss der trainiert und gekämpft haben, um soweit zu kommen!

Demnach hätte aus Gerd Müller nach seiner aktiven Laufbahn als "Bomber" ein Habermas werden müssen.

Nicht müssen, aber können, wenn er gekonnt hätte. Vom größten Athleten der Antike, Milon von Kroton, der sechsmal in Olympia im Ringen gesiegt hat, heißt es, er habe die Tochter des Philosophen Pythagoras geheiratet. Das ist der mit a² + b² = c². Nein, nein, diese Spitzenathleten waren doch keine Deppen!

Oder nehmen Sie den Athener Kallias, politischer Gegenspieler des Perikles, ein hochadeliger und steinreicher Mann, dem es gelang, mit den Persern den noch heute berühmten Kallias-Frieden zu schließen. Und dieser Kallias siegte in seiner Jugend in allen vier großen Spielen im Pankration, bei dem Boxen, Ringen, Beinschlagen, Würgen, Armverdrehen, also fast alles erlaubt war. Kallias muss das alles unverletzt und im Besitz seiner Zähne überstanden haben. Der ging doch nicht zum Perserkönig und hat ihm was vorgemümmelt!

Warum durften die Frauen bei den Wettkämpfen nicht zuschauen?

Das hatte sicher religiös-kultische Gründe. In Olympia fanden die Spiele zu Ehren von Zeus statt. Zeitversetzt gab es auch Frauenspiele, zu Ehren der Göttin Hera, bei denen ebenfalls Olivenkränze verliehen wurden.

"Den Lorbeerkranz konnte man versilbern"

Wo hätten Frauen denn trainiert?

In Sparta durften die Frauen sogar mit den nackten Männern zusammen trainieren.

Ausgerechnet in der Homosexuellen-Kommune Sparta!

Auch Plato fordert in seinem Buch "Der Staat", dass sich Frauen sportlich betätigen. Und der athenische Dichter Aristophanes rühmt die Schönheit der jungen Spartanerinnen. Sie trieben Sport, bis sie verheiratet waren.

Auch nackt?

Leicht bekleidet, eine Brust blieb frei. Nur die Knaben und Männer waren beim Sport immer nackt.

Sonne, Mittelmeer und Freikörperkultur: Hatten die Griechen ein anderes Körpergefühl?

Sicher, und vor allem ein anderes Schamgefühl. Sie hätten nie geduldet, dass die Leute so rumlaufen wie bei uns heute im Englischen Garten. In der Öffentlichkeit war man züchtig gekleidet, vor allem die Frauen. Die Nacktheit beim Sport war eine Auszeichnung.

In der griechischen Philosophie gibt es den Begriff der Kalokagathia. Was verbindet die äußere mit der inneren Schönheit?

Uns ist das heute fremd, aber die Griechen suchten in allem das richtige Maß, kein Spezialistentum, keine Einseitigkeit. Man glaubte, zu einem gesunden Geist und zur richtigen Charakterbildung gehöre auch ein gesunder Körper.

Dieses Workout im Gymnasium war aber doch reine Leibesertüchtigung und hatte nichts mit den Weisheiten des humanistischen Gymnasiums zu tun.

Gar nichts. Das Wort Gymnasium kommt von gymnos, und das heißt nackt, weil man dort nackt trainiert hat. Daneben schulte man sich in Philosophie, Redekunst und so fort. Leib und Geist wurden in gleichem Maße ertüchtigt. Dieses Ideal ist später verloren gegangen. Das Christentum empfand den Körper als etwas Negatives.

Der Körperkult verschwindet, weil man sich an der Nacktheit stört.

Der Körper wird jetzt als sündig empfunden, das Gymnasium zum Hort des Teufels.

Der Leib ist seit Paulus das Grab der Seele.

Die Griechen haben das anders gesehen. Sünden des Fleisches gab es nicht.

Sex war normal.

Das gehörte zum Menschen wie Wassertrinken.

Keine Sünde des Fleisches? Wurde dieser homosexuelle Umgang im Gymnasium denn nie problematisiert?

Das kann man nicht sagen - Ehebruch zum Beispiel wurde hart bestraft. Andererseits ist es ein weit verbreitetes Phänomen der griechischen Kultur des 6. und 5. Jahrhunderts vor Christus gewesen, dass ein älterer Mann mit einem Jüngeren ein Liebesverhältnis einging. Dabei ist es oft nicht bis zum Letzten gekommen, sondern es blieb bei einer Art Petting. Auch wenn man, was sicher nicht selten vorkam, diese Schranke durchbrach, galt die Regel, man dürfe den Jungen nicht missbrauchen.

Gibt es diese Schamgrenze in der Literatur?

Die ist da. Natürlich gab es auch Knaben zur Lust, wir würden heute sagen: Stricher. Aber das ist ein anderes Feld. Gewöhnlich hat sich der ältere Mann, der sich in einen schönen Jüngling verliebte, auch um dessen Ausbildung und Karriere gekümmert.

"Den Lorbeerkranz konnte man versilbern"

Das kommt mir alles sehr bekannt vor: Sie beschreiben nicht die Griechen, sondern den Schwabinger George-Kreis der letzten Jahrhundertwende!

Vielleicht. Aber auch da ist es wohl nicht bis zum Letzten gekommen. Sagen wir mal: Sublimierte Liebe.

Franziska zu Reventlow hat sich sehr deutlich über die Buhlknaben am Hofe des Weihen-Stefan geäußert: "wehe denen unter euch, die sich abwandten vom natürlichen gebrauch des weibes, wehe den weibern, die sich erhitzen in schändlichen lüsten."

Wenn die Reventlow Recht hätte, dann hätte ich damit keine Probleme, und die alten Griechen sowieso nicht. Ich dachte nur, dem übervergeistigten Stefan George sei Sex zu primitiv gewesen. Der war doch in Posen erstarrt - "Ich könnt, wenn ich wollt ..."

Auch Stefan George hat sich auf die Antike bezogen. Brauchte aber das Abendland für seinen Aufstieg nicht die Sublimierung, die Abkehr vom Körper?

Wo ist denn der Aufstieg? Die großen menschlichen Fragen hat schon das antike Theater abgehandelt. Die einzige große tragische Gestalt, die das Abendland hinzufügt, ist der Don Giovanni mit seinem Leben gegen die Norm. Ein Mann, der eine Frau nach der anderen verführt, um dann feierlich zur Hölle zu fahren.

In Teilen gibt es ihn doch in der Antike. Da heißt Don Giovanni Zeus oder Herakles. Die verführen die Frauen doch auch serienweise.

Aber sie fahren nicht zur Hölle, sondern zum Olymp. Die Gestalt des Don Giovanni ist nur im Christentum möglich. Die Antike hätte sie nicht verstanden.

Weil es das Problem nicht gab.

Genau so ist es.

Die Griechen waren also die glücklicheren Menschen?

Die Griechen haben den Traum des Lebens sicher schöner geträumt als wir.

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