Süddeutsche Zeitung

Pandemie und Fiktion:"Statistiken mögen erhellend sein - helfen aber emotional nicht weiter"

Elisabeth Bronfen forscht zur Darstellung von Pandemien in Literatur und Film. Wann sind Filme wie "Contagion" und "Outbreak" hilfreich - und wie ähnlich sind sich Viren und Zombies?

Interview von Benjamin Ansari

Von der Johannes-Offenbarung bis zu Albert Camus' Roman "Die Pest", von der Hure Babylon zu Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm "Nosferatu": Viren, Vampire und Zombies sind altbekannte Topoi in Film und Literatur. Aber wie verändert sich die Wahrnehmung der Zuschauer, wenn Pandemiefilme wie Steven Soderberghs "Contagion" plötzlich erschreckend real werden? Die Zürcher Literaturwissenschaftlerin und Anglistikprofessorin Elisabeth Bronfen hat die Darstellung von Pandemien in der abendländischen Kulturgeschichte untersucht, Ende August erscheint ihr Sachbuch "Angesteckt. Zeitgemässes über Pandemie und Kultur". Das Festival "Zürcher Theater Spektakel" hat ihre Reflexionen als Miniserie Zombie TV adaptiert, vom 15. August an zeigt es die Episoden als Online-Stream, jede Folge ist für 24 Stunden abrufbar.

SZ: Frau Bronfen, gibt es eine bestimmte Darstellung von Pandemien, die in Filmen gerne wiederholt wird?

Das Virus kommt meist von außen, es entsteht nicht im Inneren des Landes. Oft bekommt es eine konkrete Gestalt, repräsentiert zum Beispiel durch einen Zombie oder einen Vampir. In "Nosferatu" bringt der Vampir Graf Orlok den Erreger per Schiff von Transsilvanien in eine kleine norddeutsche Hafenstadt. Da ist viel magisches Denken und Aberglaube im Spiel. Ein Virus können wir weder sehen noch greifen - wenn es aber die Form eines Vampirs oder Zombies annimmt, gibt es konkrete Rituale, um diesen zu bekämpfen.

Sind sich Viren und Zombies denn so ähnlich?

Es gibt eine gewisse Analogie. Die Schriftstellerin Siri Hustvedt, die auch neurowissenschaftliche Texte schreibt, hat das mal mit absoluter Entschlossenheit in einem Interview geäußert. Einige Virologen sprechen vom Gang in die Welt der Untoten. Denn Viren sind tote Schnipsel, weder ganz lebendig noch ganz tot. Sie wollen einfach nur weiterleben - dazu brauchen sie einen Wirt. Das Positive ist: Sie wollen ihn nicht umbringen, nur benutzen. Unbändiger Lebenswillen treibt sie an. Darum sind sie so hartnäckig, reproduzieren sich und mutieren. Und auch Vampire und Zombies brauchen einen Wirt, um fortzubestehen. Sie beißen, infizieren, nähren sich am Lebenden und transformieren den Gebissenen in einen Überträger.

Haben die Filme, in denen es um Viren geht, noch eine andere Botschaft?

Viele der amerikanischen Pandemie-Filme sind extrem optimistisch und ganz anders als Splatter- oder Horrorfilme: "Die Stadt der Blinden", "Outbreak" oder "Invasion" laufen nicht auf die Apokalypse hinaus. Es sind Überwindungsgeschichten: Sie zeigen, wie schrecklich die Pandemie sein kann - aber am Ende wird sie meist überwunden und das Virus besiegt. Die Protagonisten sind kreativ und widerstandsfähig, die Bösewichte sterben oder werden entkräftet. Das ist mehr als nur ein Happy End, das ist eine Art Mobilmachung: Wir müssen alle Kräfte mobilisieren, um die Gemeinde gemeinsam zu retten. Haben die Helden das erstmal verstanden, gelingt die Rettung.

Sind literarische Werke auch so optimistisch?

Nein, in der Literatur ist es nie so positiv. Sie beleuchtet eher, wie die Menschen in pandemischen Situationen reagieren, welche Fehler sie machen. Der Blick ist viel nüchterner. Prototypisch sieht man das bei Camus. Am Schluss von "Die Pest" blickt der Erzähler auf die nordafrikanische Hafenstadt und sagt: Die Seuche ist vorbei. Da draußen sind die Menschen. Sie tanzen und singen und freuen sich - dabei hat sich die Pest nur zurückgezogen. Sie hat sich eingenistet in Koffer und Kleider und wird zurückschlagen. Das ist diese Idee einer ewigen Wiederkehr: Die Menschen können den Tod in Schach halten - aber nie ganz überwinden. Sie hätten es wissen können, aber haben nichts getan, und sie werden es wieder vergessen. Bis das Sterben wiederkommt, sollten sie sich in Erinnerung halten, was passiert ist. Literarische Werke überwinden die Pandemie häufig nur kurzfristig, nicht endgültig wie im Film.

Was bringt es, sich ständig der schrecklichen Vergangenheit zu erinnern?

Epidemiologen studieren vergangene Epidemien, um zukünftige zu prognostizieren. Im August 2019 simulierte das US-amerikanische Gesundheitsministerium folgendes Pandemieszenario: Ein erkrankter Tourist schleppt das Virus aus China in die USA ein. An der Übung namens "Crimson Contagion" beteiligten sich 12 Bundesstaaten und 87 Krankenhäuser ... und jetzt? Die Diskussionen rund um Schulöffnungen und das richtige Vorgehen bei der Bekämpfung der Pandemie - das alles haben sie letztes Jahr durchgespielt. Man wusste also, wo die Probleme liegen, aber hat sie nicht ernst genommen.

Aus epidemiologischer Sicht scheint der Blick in die Vergangenheit also sinnvoll. Und aus kulturwissenschaftlicher?

Kunstwerke hängen stark von ihrem historischem Kontext ab. Camus' "Die Pest" hat man immer in Bezug auf die deutsche Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg verstanden. Pandemiefilme wie Murnaus "Nosferatu" hat man meist auf den Ersten Weltkrieg und die Spanische Grippe bezogen. Als diese Filme oder Bücher erschienen sind, erinnerten sich viele Menschen noch direkt an diese Katastrophen, sie hatten sie ja selbst erlebt. Aber wir, heute, in Europa? Ob Ebola, HIV, SARS; diese Epidemien haben wir doch nie richtig auf uns bezogen. Mit Corona ist das anders. Deshalb betrachten wir alte und neue Pandemie-Filme, wenn wir sie heute sehen, unter ganz anderen Gesichtspunkten.

Unter welchen?

Es scheint, als ob Filme wie "Contagion" unsere Situation vorwegnehmen und wir die Fiktion nachleben. Dabei entstehen kuriose Aha-Effekte, man denkt sich: "Als der Film damals rauskam, fielen mir die Diagramme und die digitale Bebilderung des Virus nicht auf. Plötzlich sehe ich das ständig in den Nachrichten." Diese Art Wiederholung führt fast schon zu Vertrautheit. Im Kino kann man die Katastrophe genießen: Wir stellen uns vor, dass die Welt kollabieren könnte, aber wissen, dass sie am Ende des Films sowieso gerettet wird und alles gut ausgeht. Stars verkörpern vertraute Figuren. Bösewichte werden bestraft. So beruhigt uns der Film und stiftet Sinn - und wir hoffen, für uns selbst auch noch Sinn herauszuziehen.

Suchen wir in Krisenzeiten verstärkt nach Sinn?

Absolut! Der Stillstand hat uns gezwungen, innezuhalten. Das führte zu furchtbarem Solipsismus und Sentimentalitäten, verstärkte aber auch den Wunsch, zu verstehen, was um uns herum passiert. Die Gesundheitsministerien haben uns vorgeschrieben, wie wir uns verhalten sollen. Handlungsanweisungen, Modellierungen und Statistiken mögen erhellend sein - helfen aber emotional nicht weiter. Dazu brauchen wir Geschichten und Bilder. Der Rückgriff auf sie hilft uns, schrecklichen Erlebnissen Sinn zu geben.

Geschichten wandeln sich im Laufe der Zeit. Wie deuteten unsere Vorfahren Pandemien?

Bis ins 20. Jahrhundert sahen sie vor allem die Ausbrüche der Pest noch als Bestrafung Gottes. Die Menschen waren nicht gottesfürchtig genug, wurden verführt von der sündhaften Stadt oder der sündhaften Frau. Für diese Laster bestrafte sie Gott - sie sollten sich ihrer eigenen Unwichtigkeit bewusst werden. Das zieht sich von der Bibel über die Werke von Giovanni Boccaccio, Daniel Defoe, Mary Shelley bis hin zu Albert Camus.

Jetzt ist das nicht mehr so eindeutig. Wie wird das Coronavirus gedeutet?

Die Lesart ist viel säkularer: Wir selbst bestrafen uns. Es geht um Globalisierung, vernetzten Tourismus und Handel, Freizügigkeit der Bewegung - nicht mehr Freizügigkeit der Moral. Viele sehen das Virus als logische Konsequenz entfesselter Globalisierung. Ich vergleiche es eher mit dem Spurensicherungspulver an einem Tatort: Es hat systemische Vergehen globaler kapitalistischer Kultur sichtbar gemacht.

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