Süddeutsche Zeitung

Interview:BOOM! kam ein Buch heraus

Ein Gespräch mit dem kanadischen Zeichner Guy Delisle über Krisenberichterstattung im Comic und seinen neuen Graphic Novel "Geisel", der auf einer wahren Geschichte beruht.

Interview von Thomas von Steinaecker

Der Kanadier Guy Delisle ist einer der wichtigsten Comic-Künstler der Gegenwart. Seine Reisebücher über Shenzhen, Pjöngjang und Birma waren wegweisend für eine neue Form des dokumentarischen Comics; seine "Aufzeichnungen aus Jerusalem" verkauften sich allein in Frankreich mehr als 250 000 Mal. Auch sein neuestes Werk, "Geisel", schildert eine wahre Geschichte: 1997 wurde ein Mitarbeiter der Ärzte ohne Grenzen von tschetschenischen Separatisten entführt und 111 Tage gefangen gehalten. Wir trafen Delisle auf seiner Lesereise in Frankfurt.

SZ: Ihre Reisecomics wecken den Eindruck, als hätten Sie eine Affinität zu den Krisengebieten dieser Welt.

Guy Delisle: Das täuscht. Ursprünglich arbeitete ich als Zeichner für Animationsfilme. Interessanterweise wird diese Arbeit mittlerweile nach China oder Nordkorea ausgelagert. Die Aufenthalte dort waren die Grundlage für "Shenzhen" und "Pjönjang". Danach begleitete ich meine Frau, die für Ärzte ohne Grenzen arbeitete, nach Birma und Jerusalem.

Es waren also keine konkreten Buchprojekte, die Sie dorthin führten?

Nein. Als ich in diesen Ländern war, machte ich mir lediglich Notizen. Hätte ich sie vor Ort ausgearbeitet, hätte ich ja nichts mehr erlebt. In Jerusalem dachte ich anfangs, dass die Situation dort derart kompliziert ist, dass daraus nie ein Buch wird. Zu Hause begann ich dann einfach mit meinem ersten Tag in der Stadt, wählte aus meinen Notizen die witzigsten und interessantesten Episoden aus - und "BOOM!" kam ein Buch heraus.

Sie würden nie bewusst in eine Krisenregion reisen wie Ihr Kollege Joe Sacco?

Er macht das, weil er Journalist ist. Das ist eine völlig andere Herangehensweise. Ich hingegen bin immer nur mit meiner Frau oder meinem Kind unterwegs. Comics sind ziemlich gut darin, Dinge anschaulich zu machen. Das ist fast schon pädagogisch. Und sie können witzig sein. Diese Kombination mag ich sehr. Aber das ist alles andere als journalistisch. Die Bücher fühlen sich vielmehr an wie lange Postkarten an meine Familie. Ich schreibe also eher Postkarten als Reportagen.

Vom autobiografischen Ansatz unterscheidet sich Ihr neuestes Buch "Geisel" stark.

Ich traf Christophe André bereits nach "Shenzhen" im Jahr 2000. Mich faszinierte damals diese Geschichte von einem, der es schafft, aus dem Gefängnis seiner Entführer auszubrechen. Und dann gingen wir zusammen essen, und ich war verblüfft, denn er erzählte mir seine Geschichte einfach so, als sei nichts dabei gewesen. Sofort beschloss ich, einen Comic daraus zu machen, und Christophe war einverstanden. Aber dann kamen mir meine Reisebücher dazwischen. Außerdem: ein 400-Seiten-Comic über eine Entführung? Wer hätte das damals kaufen sollen? Der Comicmarkt war ein völlig anderer.

Es muss schwierig gewesen sein, die richtige Form für die Geschichte zu finden. Schließlich passiert ja fast nichts während seiner Gefangenschaft.

Das Buch ist sehr minimalistisch, das stimmt. Meine erste Fassung sah auch ganz anders aus. Die Szene, in der er entführt wird, war wie aus einem Actionfilm. Und dann wurde mir bewusst, dass das der falsche Weg war. Denn die Wirklichkeit würde dann wie ein Film aussehen. Mir wurde klar, dass sich die Zeichnungen ganz in den Dienst der Geschichte stellen mussten. Ich wollte also keinerlei Effekte, dramatische Schatten oder Ähnliches. Schließlich ging es hier um eine wahre Begebenheit.

Ich fand Christophe Andrés Verhalten während seiner Gefangenschaft überraschend rational.

Als ich ihm eine ähnliche Frage stellte, antwortete er: "Ich war die ganze Zeit voller Adrenalin, weil ich ununterbrochen nach Möglichkeiten suchte auszubrechen." Er nahm alles sehr bewusst wahr. Jedes Detail konnte ja seine Rettung bedeuten. Nach einem Monat gab man ihm eine Zeitung, um ihn damit zu fotografieren. Ich fragte ihn: "Warum hast du die Zeitung denn nicht gelesen?" Das hätte ich als Erstes getan. Er antwortete nur: "Nein. Ich durfte mich nicht ablenken lassen."

Würden Sie sich selbst als einen "auteur engagé" bezeichnen? Ihre Bücher legen ja nahe, dass Sie ein starkes politisches Bewusstsein haben.

Ich bevorzuge eine distanzierte Perspektive. Als ich in Jerusalem war, vermied ich das Thema Netanjahu. Ähnliches gilt für "Geisel". Ich wollte nicht über die Situation in Tschetschenien schreiben, weil das nicht mein Thema war. Ich betrachte mich selbst also nicht als engagierten Autor. Da gibt es andere, zum Beispiel eine französische Comic-Autorin, die nach Calais fuhr, als man dort die Flüchtlingslager räumte.

Über so etwas eine Geschichte zu machen würde Sie nicht reizen?

Nein. Als es in Jerusalem Explosionen gab, hatte ich nicht den journalistischen Impuls: "Uh, ich muss da vor Ort sein, um der Sache nachzugehen." Mir geht es nicht um Ausnahmesituationen, in denen etwas Einmaliges passiert. Mir geht es um das, was sonst unter den Tisch fällt: der Alltag.

Und daran änderte auch der Terroranschlag auf Charlie Hebdo nichts?

Natürlich waren wir alle extrem erschüttert. Aber ich interessiere mich nicht für Lokalpolitik, und ich könnte auch keine Cartoons zeichnen. Ich bin ein Erzähler.

Was ist mit Donald Trump? Der würde eine gute Comicfigur abgeben.

Oh, so etwas könnte ich nicht ...

Und wenn Sie eine Zeit lang in den USA wären?

Na ja, vielleicht. Da gibt es zum Beispiel diese Geschichte, die ich neulich erlebte: Mein Sohn war in einem Sprach-Austauschprogramm mit einem Kind aus New York. Bei der Schule dort handelte es sich um die Schule der UN. Die Eltern waren also alle Diplomaten. Und sie sagten: "Ihr könnt eure Kinder gerne zu uns schicken, aber unsere Kinder bleiben hier." Denn viele von ihnen kamen aus Ländern, die von Trumps "Travel-Ban" betroffen waren. Eine alltägliche Situation also. Die Kinder, die nicht wissen, was los ist, und ihre Eltern, die nicht das Risiko eingehen wollen, dass ihre Kleinen am Flughafen verhaftet werden. Was so dermaßen verrückt ist, wenn man bedenkt, dass wir es hier mit einer Demokratie wie den USA zu tun haben. Aus so einer Geschichte könnte etwas werden.

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Quelle:
SZ vom 04.04.2017
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