Interview: André Glucksmann:"Ich bin kein Fetischist des Mai '68"

André Glucksmann, ein früherer Links-Aktivist, will das Erbe von 1968 begraben. Warum er die Fronten wechselte und jetzt Nicolas Sarkozy unterstützt, verrät er im Gespräch.

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Das diskrete Hotel Savoy in Berlin-Charlottenburg. André Glucksmann empfängt in seiner Suite. "Von welcher Zeitung kommen Sie?", fragt er in beinahe akzentfreiem Deutsch. Seine pilzartige Frisur ähnelt noch immer der von Mireille Mathieu, aber seine Haare sind inzwischen grau. Er wirkt nicht distanziert, gar nicht wie der medienerfahrene schillernde Philosoph. Er redet leise, wird dann plötzlich energisch, und nun spürt man seine Wut. Er schaut einem die ganze Zeit in die Augen, mit sanftem und am Ende etwas schwermütigem Blick. Ach, diese Franzosen.

Interview: André Glucksmann: André Glucksmann: Früher ein Linker, heute Unterstützer von Sarkozy.

André Glucksmann: Früher ein Linker, heute Unterstützer von Sarkozy.

(Foto: Foto: dpa)

SZ: Monsieur Glucksmann...

André Glucksmann: ...wollen wir deutsch sprechen? Natürlich gefällt es mir auch, Ihr Französisch zu hören...

SZ: Reden wir lieber französisch, das ist Ihre Sprache und sie klingt charmanter. Wie haben Sie den Mai '68 in Paris erlebt?

Glucksmann: Ich war knapp dreißig Jahre, ein junger Intellektueller und hatte das Buch "Diskurs über den Krieg" geschrieben. Ein Journal, das offen für verschiedene politische Strömungen war, bot mir an, dort Redakteur zu werden. Aktion wurde mit 5000 Exemplaren im Quartier Latin verkauft und hatte Wirkung. Erst war ich ein linker Intellektueller, später wurde ich ein militanter Maoist. Ich hoffte auf eine proletarische Revolution. Ein kompletter Irrtum meines Denkens. Denn sie wurde niemals real.

SZ: Von der Universität Nanterre, dem Quartier Latin und von St.-Germain-des-Prés schwappte die Revolte in die Welt.

Glucksmann: Ich bin kein Fetischist des Mai '68, ob nun in Berlin oder Paris die Barrikaden brannten. Natürlich erlebten wir Augenblicke der wahren Freiheit. Kaugummi kauende GIs und küssende Frauen. Nichts ist unsinniger als zu behaupten: Die 68er Generation hat etwas Relevantes getan. "Die Generation 68" existierte genau drei Wochen, sie hat sich dann zerstreut. Es war eine kurze Erhellung über das 20.Jahrhundert. Mehr nicht.

SZ: Was meinen Sie mit "Erhellung"?

Glucksmann: Ein Sonnenstrahl, ein kurzes Aufatmen. Nach Auschwitz, den Kriegen, der massenhaften Vernichtung. Plötzlich schien es, als sei diese Utopie des Friedens in Europa realisierbar. Das dauerte nur kurz. Der gewöhnliche Kapitalismus wurde nicht erschüttert.

SZ: Ist es jetzt wirklich nichtig, was passierte? Seit Jahrzehnten beschäftigen sich Politiker, Wissenschaftler, Medien mit diesem Thema, und in Familien streitet man.

Glucksmann: Ich nenne es "Kastanienbaumthema"!

SZ: Wie bitte?

Glucksmann: Ja. Ein Klischee, das immer wiederkehrt und acht Zeitungsseiten füllt, ohne, dass man etwas erfährt - es wird nicht wirklich hingeschaut. So ähnlich wie die heutzutage immer wiederkehrenden Themen: Die Gehälter der Manager oder: die Häuser in der Champagne oder: Sex, Urlaub... Allgemeinplätze, nette Unterhaltung, illustriert mit mal freundlichen, mal schrecklichen Bildern.

SZ: Sie erklären in Ihrem neuesten Buch dem Präsidenten Nicolas Sarkozy den Mai '68. War das denn nötig?

Glucksmann: Kurz vor seiner Kandidatur zum Präsidenten nahm ich an einer Veranstaltung mit ihm teil. An diesem Abend hielt er seine flammende Rede gegen den Mai '68. Er wolle dieses Erbe "liquidieren", die Gedanken dieser Zeit seien verantwortlich, dass es "keinen Unterschied mehr gibt zwischen Gut und Böse, zwischen dem Richtigen und dem Falschen..." Diese Sätze hatten eine Reaktion verdient.

SZ: Sie spürten den alten Linken in sich?

Glucksmann: Es ist einfach differenzierter. Der Mai '68 ist weder der Grund unseres heutigen Glücks noch unseres Unglücks. Diese Studenten, die reflektierten und sich auseinandersetzten waren damals aus einem ganz simplen Grund links - auch ich ging deshalb zu den Kommunisten: Die Rechte hatte mit Hitler kollaboriert. Nach 1945 eroberte sich daher die Linke die kulturelle, ideologische und intellektuelle Hegemonie. Denken Sie an diese großen Dispute zwischen Camus, Sartre, Aaron...

SZ: ...die Ikonen der französischen Intellektuellen, die sich untereinander fetzten.

Glucksmann: Ich hatte zehn Jahre lang mit Raymond Aaron gearbeitet. Und erlebte unmittelbar diese ideologischen Grabenkämpfe zwischen Sartre und Aaron. Raymond Aaron hielt den Mai '68 für "studentischen Karneval", für eine "Quasi-Revolution". Sartre dagegen war es ernst, mit diesem "Bruch mit der Vergangenheit im Denken und Handeln". Aarons Haltung hielt er für zu liberal. Jeder wollte recht behalten. Damals war es ein Bonmot: "Mit Sartre zu irren ist besser, als mit Aaron recht zu haben."

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Warum Mitterand Mitschuld an dem Genozid in Ruanda trägt.

"Ich bin kein Fetischist des Mai ’68"

SZ: Eitle Männer?

Glucksmann: Damals kritisierte ich den Stand des Intellektuellen, der in seiner Schreibstube sitzt und die Welt da draußen bewertet.

SZ: Sechs Jahre später, Mitte der 70er Jahre, vollzogen Sie als "Neuer Philosoph" die radikale Abkehr vom Kommunismus. Was gab den Anstoß?

Glucksmann: Solschenizyn und sein Buch "Archipel Gulag" haben mir 1974 die Augen geöffnet. Ein Erdbeben! Nun versuchte ich mit den anderen "Neuen Philosophen" in Frankreich den Totalitarismus jeglicher Art zu bekämpfen, antiideologisch aufzuklären. Als mein Buch "Köchin und Menschenfresser" 1976 erschien, eine Abrechnung mit stalinistischen und marxistischen Systemen, wurde ich heftig angefeindet, auch von früheren Mitstreitern. Für viele französische Intellektuelle bedeutete antikommunistisch zu sein, reaktionär zu sein. Es traf die westlichen Intellektuellen an einem schwachen Punkt. Die böse Seite des Kommunismus wollten viele nicht sehen.

SZ: Sie wandelten sich vom linken Maoisten zum liberalen Menschenrechtler?

Glucksmann: Gemeinsam mit dem Philosophen Michel Foucault organisierte ich 1979 ein Treffen zwischen den verbitterten Gegnern Aaron und Sartre. Sie sollten sich beim Staatspräsidenten Giscard d' Estaing für die vietnamesischen "Boat People" einsetzen. Tausende Menschen flohen damals vor der kommunistischen Diktatur in Nordvietnam auf Holzbooten gen Westen. Ich wollte nicht, dass Intellektuelle einfach wegschauten.

SZ: Wegschauten? Das beschäftigt Sie sehr.

Glucksmann: Viele der Linksintellektuellen waren auch unfähig, die Dissidenten des Ostblocks zu unterstützen. Der lange Weg bis zum Fall der Mauer 1989, angefangen von 1953 in Ostberlin, dann Budapest, Warschau 1956, Prag 1968, die Solidarnosc und sowjetische Dissidenten. Das alles ging beinahe unbeachtet an der Linken vorbei. Einmal in den 70er Jahren trat ich im westdeutschen Fernsehen auf und sprach danach mit der Frau in der Maske. Sie stammte aus der DDR und sagte mir: Wenn ich hier erzähle, was dort passiert, hört man mir nicht zu.

SZ: Man wusste doch im Westen von der Reformbewegung.

Glucksmann: Ein Freund von mir, der DDR-Oppositionelle Jürgen Fuchs, beschäftigte sich mit der Uran-Produktion im Osten. Nachdem er in den 80er Jahren an Blutkrebs erkrankt war, äußerte er den Verdacht, die Stasi habe ihn verstrahlt. Er wurde belächelt, sogar von manchen seiner Freunde. Er wurde depressiv, weil ihn niemand hören wollte. Ein Bekannter von mir traf ihn im Sanatorium, kurz bevor er an Leukämie starb. Und sagte zu ihm: "Hör zu Fuchs, keine Sorge. Du bist nicht der einzige Narr. Es gibt noch einen, das ist Glucksmann." Eine Ausnahme war Petra Kelly. Mit ihr habe ich stundenlang debattiert, sie hielt das Dissidententhema für essentiell. Sie hörte zu, kümmerte sich, lieferte ihnen Bücher, wenn sie die Grenze überquert hatte. Eine der wenigen.

SZ: Wo blieben die kämpferischen linken französischen Intellektuellen?

Glucksmann: Sie waren zu sehr mit sich beschäftigt, und was wirklich auf der Welt passierte, nahmen die meisten gar nicht richtig wahr.

SZ: Und die linken Parteien?

Glucksmann: Sie standen schon dem Mai '68 hilflos gegenüber. Sie waren zersplittert, daran sind sie in ihrer Geschichte schon oft gescheitert. De Gaulle löste 1968 die Nationalversammlung auf und gewann die Neuwahlen. Schauen Sie sich die französischen Sozialisten heute an!

SZ: Was ist los mit ihnen?

Glucksmann: Während der Präsidentschaftskampagne 2006 taten die Sozialisten noch so, als stünden sie geschlossen hinter ihrer Kandidatin Ségolène Royal. Seit sie gescheitert ist, schreibt jeder ein Buch, indem er auf den Anderen spuckt. Die französische Linke liegt im mentalen Koma. Ich wurde so gehindert, links zu wählen. Sie hat keine Idee und zwar seit mehr als zwanzig Jahren.

SZ: Wie entstand so ein Vakuum?

Glucksmann: Die Linke hatte einen Vater. François Mitterand. Und er war ein grenzenloser Lump. Seine politische Karriere war beachtlich: Anfangs arbeitete er für das Vichy-Regime in der Zeit der deutschen Besetzung. Sie sehen: Nicht jeder ist in seiner Jugend links. Am Ende von Mitterands Amtszeit erlebten wir den Genozid in Ruanda. Es war seine Politik, die dazu geführt hat, dass Frankreich das "falsche Feld" gewählt hat. Frankreich hat zwar nicht getötet, aber Waffen geliefert, die Kriegsgeneräle unterstützt und finanziert. Eine Million Menschen sind in drei Monaten umgekommen. Und Mitterand, der seit 1981 im Amt war, trägt eine Hauptverantwortung.

SZ: Er ordnete eine "humanitäre Intervention" mit UN-Mandat an, die aus seiner Sicht den "totalen Genozid" verhindern sollte.

Glucksmann: Die Mehrheit der Hutu waren alte Verbündete der Ex-Kolonialmacht Frankreich. Der französische Journalist Patrick de Saint-Exupéry zitierte François Mitterand mit dem Satz: "In so einem Land ist ein Völkermord nicht so wichtig." Aber die Sozialisten haben sich von François Mitterand nie gelöst. Bis heute verweigert Frankreich die Entschuldigung. Es wird vertuscht und verleugnet, darin liegt das Problem. Und die Linke? Sie schweigt, über Ruanda, über die Folgen und über Mitterands "Schuld".

SZ: Wie stehen Sie zu sogenannten "Friedenseinsätzen"?

Glucksmann: Ich legte mich schon Anfang der 80er Jahre mit den grünen Pazifisten um Joschka Fischer an. Wir kannten uns natürlich, unter 68ern. Ich war gegen die Stationierung von SS-20 und Pershing II-Raketen, anders als sie. Man braucht ab und zu Waffen, um das Gleichgewicht zu halten. Ein neuer Krieg musste unbedingt verhindert werden. Und ich schrieb das einzige Buch eines Intellektuellen gegen den Pazifismus - ein Bestseller in Deutschland. Das verbreitete ich auf langen Tourneen, beispielsweise an der Katholischen Akademie von Hamburg vor zweihundert Personen. Jemand stand auf und sagte: "Letzten Sonntag habe ich 'Mein Kampf' wiedergelesen. Das ist exakt dasselbe."

SZ: Wie haben Sie reagiert?

Glucksmann: Ich entschuldigte mich und sagte: Ich habe einen jüdischen Vater, der von den Nazis umgebracht wurde, meine Mutter war im Widerstand. Wir sind knapp dem Lager bei Vichy entkommen. Womöglich hinkte der Vergleich, aber es gab Stoff, um zu diskutieren.

SZ: Haben Sie noch Kontakt zu den umstrittenen Revoluzzern?

Glucksmann: Sie sonnen sich noch immer ein bisschen in ihrem 68er Licht. Daniel Cohn-Bendit hat sogar ein Buch herausgegeben, zum 40. Jubiläum. Das Nichtige, das Unnütze dieser Sache wollen sie immer noch nicht sehen. In den Medien kommt es gut an.

SZ: Fischer wurde Staatsmann.

Glucksmann: Als Joschka Fischer Außenminister war, habe ich ihn um Schutz und Visa für einige Tschetschenen gebeten, die den Tod fürchteten, bedroht vom Moskauer Regime. Es war schwierig für ihn. Er war jetzt Funktionär - er tat, was er konnte, aber mit begrenzter Handhabe. Enttäuscht war ich vor allem von Schröder. Ich habe ihn häufig kritisiert, manchmal auch in Fischers Gegenwart, wenn sie beide zusammen auftraten. Ich werfe Schröder seine Freundschaft zu Putin vor und seinen politischen Umgang mit ihm. Ich habe niemals verstanden, dass es nur wenige Abgeordnete gab, wie den Grünen Reinhard Bütikofer, die sagten: "Es stinkt!"

SZ: Als herauskam, dass Schröder den Aufsichtsratsvorsitz in dem staatlichen russischen Gazprom-Konsortium übernehmen soll?

Glucksmann: Genau. Der Firma, die eine Ostsee-Pipeline von Russland nach Deutschland bauen soll. Er hatte seinen Posten als Kanzler genutzt, um Industriellen Geld zu schenken. Einen Monat später steht er an der Spitze des Unternehmens, das davon profitiert. Staatsgeld, das Schröder ein goldenes Alter garantiert. Was für eine totale Verfaulung!

Auf der nächsten Seite: Was Gluckmann über die Selbstinszenierung von Nicolas Sarkozy denkt.

"Ich bin kein Fetischist des Mai ’68"

SZ: Und Sie stärken inzwischen dem konservativen Präsidenten Sarkozy den Rücken, der sich mit reichen Industriellen-Freunden umgibt.

Glucksmann: Ich unterstütze Sarkozy, weil er mit dem alten Modell der französischen Politik brechen will. Er ist jung! Der Aufschrei der Linken und ihrer Medien, wie der Zeitung Libération, die sich für die Erbin des Mai '68 hält, über meine Wahlentscheidung für ihn dauerte übrigens nur kurz. In diesem Fall folgte mir die Mehrheit unseres Volkes. Die Arbeiter, die einfachen Leute, die generell links wählen. Philosophie ist nicht links oder rechts.

SZ: Er beherrscht vor allem die Kunst der Selbstinszenierung. Stört Sie das?

Glucksmann: Dafür sind doch die Journalisten verantwortlich. Sie schaffen dieses Bild, immer geht es um die Ex- und die künftige Frau, weil es sich blendend verkauft. Die Zeitung ist das Morgengebet des modernen Menschen. Nicolas Sarkozy hat unsere Probleme noch nicht gelöst, aber seine Diagnostik ist richtig. In sechs Monaten kann er nicht viel tun. Er ist auch nur ein Politiker, mit Stärken und Schwächen.

SZ: Einer, der wegschaut, was die Probleme in den Vororten angeht, es sei denn sie brennen.

Glucksmann: Diese Revolten sind keine islamistischen. Sondern die von jungen Arbeitslosen ohne Perspektive: Sie haben ihren Vater arbeitslos gesehen, ihren Bruder und ihren Großvater. Wenn man unzufrieden ist, zerstört man und steckt Autos an. Das ist die französische Methode des Protests. Die Bauern tun dasselbe.

SZ: Seine Algerien-Vergangenheit hat Frankreich bis heute nicht öffentlich verarbeitet.

Glucksmann: Es ist eine Wunde, die nie verheilt ist. Und die politische Klasse, ob links oder rechts, benutzt kein Pflaster. Immer ein paar diplomatische Sätze zu einem Anlass. Aber welche Schuld wir tragen, an der Situation der Algerier, die heute in Frankreich leben - und an ihrer Geschichte? Solche Fragen sind immer noch ein halbes Tabu, ob nun links oder rechts.

SZ: Ist es das, was Sie treibt, in die Krisenherde zu reisen und anzuklagen?

Glucksmann: Es ist die Gleichgültigkeit gegenüber den humanen Katastrophen. Wir nehmen die Naturkatastrophen, den Tsunami, wahr. Aber die Zivilkriege? Weniger. Die Völkermorde? Weniger. Dieses permanente Wegschauen macht mich rasend. Ich habe mich mit den deutschen Pazifisten angelegt, die über die französischen Atomtests auf Tahiti klagten - aber weniger über die ethnischen Säuberungen in Jugoslawien. Einige Intellektuelle protestierten dagegen, Bernard-Henri Lévy, tausend, zweitausend Demonstranten in Paris, einige Politiker, die europäische Entourage von Clinton und Madame Albright, die ein europäisches Gedächtnis hat. Schritt für Schritt wurden Menschen aufmerksam. 2001 wurde Milosevic gestoppt, zehn Jahre nach meinem ersten Artikel gegen ihn. Tschetschenien? Sie werden massakriert. Ich schreibe seit mehr als zwölf Jahren darüber, habe das Land oft bereist, war sogar einmal fast dort verschollen. Das hat gar nichts genützt! Mein Einfluss ist schwindend gering.

SZ: Resigniert wirken Sie nicht.

Glucksmann: Es betrübt mich, das Ende meines eigenen Lebens im selben Moment zu erfahren wie das Ende eines Volkes. Die Tschetschenen sind ein Volk, das seine Freiheit über alles liebt und schon immer verfolgt wurde. Große russische Schriftsteller haben diesen Freiheitswillen erkannt: Puschkin, Tolstoi. Der Ermordung zuzusehen ist schrecklich. Wissen Sie, ich bin in einem Genozid geboren worden und ende nun in dieser massiven Auslöschung, praktiziert unter den gleichgültigen Augen der Welt.

SZ: Wie schaffen Sie sich Glücksmomente?

Glucksmann: Manchmal muss ich Freunde anrufen, damit sie mich aufbauen. Mir Mut machen und sagen, dass es sich lohnt, immer wieder aufzuschreien. Oder ich sehe einen guten Film... wie neulich diesen rumänischen Film, der von der Zeit nach Nikolai Ceausescu handelt, voller Wärme und Intelligenz. Manchmal treffen mich Blitze des Mutes von algerischen Frauen, die mich verzücken.

SZ: Und die Liebe?

Glucksmann: Ach, die Liebe... sie ist sehr kompliziert. Ein anderes Thema.

André Glucksmann kam 1937 als Sohn deutsch-jüdischer Emigranten in Boulogne-Billancourt zur Welt. Seine Eltern waren 1930 nach Deutschland emigriert und hatten sich dort dem deutschen antifaschistischen Widerstand angeschlossen, bis sie 1936 wieder nach Frankreich flüchteten. Der Vater kam ums Leben, der Rest der Familie entging knapp der Deportation. André Glucksmann studierte Philosophie und wurde unter Raymond Aaron ein Spezialist für Krieg, Abschreckung und nukleare Strategie. Gemeinsam mit Bernard-Henri Lévy und Alain Finkielkraut bildete er die Gruppe "Neue Philosophen" in Frankreich, deren Vertreter eine dezidierte Kritik totalitaristischer Systeme entwarfen. In der deutschen Linken ist er seit dem 1975 erschienenen Werk "Köchin und Menschenfresser" umstritten. Glucksmann meint, das Denken müsse sich nach praktischen und sozialen Fragestellungen ausrichten und sei daher zwangsläufig politisch: Er engagiert sich seit Jahrzehnten für die globalen Menschenrechte. Zuletzt verursachte der 70-Jährige Wirbel, als er Nicolas Sarkozy im Wahlkampf unterstützt hat. Am 14. Februar erschien in Frankreich sein neues Buch: "Wie ich Nicolas Sarkozy den Mai '68 erkläre", das er mit seinem Sohn Raphael verfasst hat. Glucksmann lebt in Paris.

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