Süddeutsche Zeitung

Debattenkultur:"Wir brauchen mehr aufgeklärte Ignoranz"

Lesezeit: 3 min

Im schnellen Empörungszyklus aktueller Debatten gehen die großen Zukunftsfragen unter. Wie kommt man zu einem futuristischen Denken - oder gar zu neuen Utopien?

Interview von Carlotta Cornelius

Die Migrationsdebatte und Auseinandersetzungen über einzelne Äußerungen von Politikern bestimmen momentan den öffentlichen Diskurs. Durch diese Konzentration auf die Gegenwart geraten große Zukunftsthemen wie Klimawandel, Ressourcenknappheit oder Digitalisierung aus dem Blickfeld - dabei wäre genau jetzt der Zeitpunkt, um sie anzugehen. Wie bekommen wir den Blick wieder in die Zukunft gerichtet und können uns Utopien dabei helfen? Der Publizist und Gründer des Wiener "Zukunftsinstituts" Matthias Horx rät zu Pragmatismus und dazu, sich nicht von der Hysterisierung der öffentlichen Meinung ablenken zu lassen.

SZ: Migrationspolitik, Rechtspopulismus und die Krawalle in Chemnitz werden groß debattiert. Die wichtigen Zukunftsthemen wie Klimawandel oder Ressourcenknappheit werden dagegen im öffentlichen Diskurs zurzeit ausgeklammert. Sind unser Denken, unsere Debatten heute stärker in der Gegenwart verhaftet?

Matthias Horx: Gewissermaßen ja. Wir leben in einer Zeit der Hypermedialität, in der das Mediensystem wie eine gigantische Echokammer wirkt. In dieser Kammer werden alle Hässlichkeiten und Provokationen immer weiter verstärkt. Das wirkt wie eine Entzündung in der Gesellschaft, eine Hysterisierung der öffentlichen Meinung. Der Rechtspopulismus nutzt diesen Echo-Effekt, um die Aufmerksamkeiten zu verschieben. Und so werden die wirklichen Zukunftsthemen an den Rand gedrängt.

Rechtspopulistische Parteien wie die AfD zehren von dem Satz: Früher war alles besser. Mangelt es uns heutzutage an positiven Zukunftsvisionen, fehlt eine Utopie?

Ja und nein. Utopien sind immer eine Vereinfachung komplexer Wirklichkeiten. Wenn man so will, eine Art Religionsersatz. Wenn man anfängt, eine Utopie zu verwirklichen, gerät man schnell an die Paradoxien der Wirklichkeit, die man ja gerade ausblenden wollte, und das führt zu Terror oder Depression. Was wir brauchen, ist mehr Zukunfts bewältigung, nach vorne schauen ohne Angst, aber auch ohne naive Euphorie. Visionen sind im Unterschied zu Utopien eher Skizzen des besseren Möglichen, als innerer Kompass kann das hilfreich sein. Nur muss diese Orientierung eben von innen kommen, aus dem gesellschaftlichen Diskurs. Ich finde zum Beispiel die Orientierung an der Wissensgesellschaft sinnvoll, an einer Zukunft, in der Lebensqualität, Vielfalt und mehr humane, nicht nur künstliche Intelligenz eine Rolle spielen.

Sie meinen, Utopien können unter Umständen sogar schädlich für eine Gesellschaft sein?

Es gibt auf Arte und in der ARD gerade eine wunderbare historische Doku-Drama-Produktion namens " Krieg der Träume". Die zeigt, welche radikalen Utopien und Visionen die Gesellschaft vor 100 Jahren geprägt und gespaltet haben. Früher haben die Menschen viel mehr in Blasen gelebt - ideologischen, religiösen oder klassenspezifischen. Dagegen haben wir heute einen viel, viel größeren Konsens. Die Gesellschaft ist vielfältiger, vernetzter, differenzierter, liberaler, offener, kosmopolitischer geworden. Deshalb rasten die Rechten ja auch so aus: Weil sie im Grunde ahnen, dass ihre völkischen Identitätsideologien für immer verloren sind.

Aber ist der Mangel an positiven Zukunftsvisionen nicht ein Grund für dieses Aufbegehren gegen die etablierte Politik?

Der Erfolg von Angela Merkel zeigt ja, dass die Menschen ein großes Bedürfnis nach Maß und Gelassenheit haben. Viele Menschen wollen eher weniger politische Konflikte, sie sind ganz zufrieden mit der großen Koalition. Ich glaube eher, dass einige Menschen viel zu viel von der Politik erwarten, und ihre Eigenverantwortung für ihr Leben negieren. Der Staat soll wie eine Mutter sein, die sich um alles kümmert, alle Lebenslagen "im Griff haben", totale Sicherheit und Gleichheit, womöglich auch noch Identität herstellen. Das ist der alte faschistische Traum, der vor allem von innerlich verunsicherten Menschen geträumt wird. Deshalb wird ja dauernd "Systembetrug" und "Lügenpresse" geschrieen, das sind typische Rückschritte in eine kindliche Erwartungshaltung.

Die Demokratie galt einmal als ideale politische Ordnung. Heute scheinen viele von autoritären Herrschaftsformen angezogen. Taugt die Demokratie, so wie sie ist, noch als Leitbild oder braucht es eine Erneuerung?

Ich bin skeptisch, ob die Diagnose stimmt. Die wenigen, die sich eine Diktatur wünschen, artikulieren sich nur lautstärker und können die Echoeffekte des Hypermedialen nutzen. Aber natürlich muss Demokratie immer in Bewegung bleiben. Wir brauchen neue plebiszitäre Elemente, neue Formen der Teilhabe, alles unbestritten. Aber die Demokratie ist, wie auch das Beispiel Trump zeigt, robuster als man denkt. Die Gewaltenteilung ist eine geniale soziale Erfindung, die einige Stürme überstehen wird.

Wie können wir zu einem zukunftsgewandten Diskurs finden?

Indem wir zunächst aufhören, jeder Erregungskonjunktur, jedem Shitstorm, jeder blöden Provokation hinterherzurennen. Gelassenheit kommt von Lassen. Angesichts der Echtzeit-Logik des Medialen: Wir brauchen mehr aufgeklärte Ignoranz. Die Reizüberflutung erzeugt einen Gegentrend zur Achtsamkeit.

Also sollten Politiker und Kulturschaffende die Schreihälse ignorieren?

Sie tun es ja. Ständig. Aber auf diejenigen, die es besonders gut tun, richtet sich seltener eine Kamera. Auf die Schreihälse dagegen immer.

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